Die ersten rein digitalen Internationalen Spieltage sind vorüber, zurück bleiben bei vielen Fans gemischte Gefühle. Das Stimmungsbild ist nach vier Tagen Online-Messe gemischt, durchzogen von Kritik und Ratlosigkeit, aber auch Jubel über ein neues Format, das im kommenden Jahr gern angeboten werden darf, allerdings als reines Nebenprodukt. Egal, ob man die SPIEL.digital nun mochte oder nicht, eines ist dem Großteil der Spielenden ganz deutlich vor Augen geführt worden: Wie wertvoll die Vor-Ort-Messe in Essen ist.
– ein Kommentar von André Volkmann
In jedem Jahr ergibt sich nach der SPIEL in Essen ein ähnliches Bild: Es wird aus vollen Rohren geschimpft über volle Hallen, über enge Gänge, über ausverkaufte Spiele und lange Schlangen, über stets belegte Tische, über Angebote, die eigentlich keine sind. Und in diesem Jahr ist plötzlich alles anders: Da wünscht man sich den Blick aufs verschwitzte T-Shirts des Vordermanns, schätzt den Tritt in die Hacken oder erinnert sich mit Freude daran, wie das Verlagspersonal einem mit der Sackkarre über die Füße rollt. Man vermisst den liebgewonnenen Schmerz, den so mancher Messebesuch vor Ort in Essen einem bereitet. Das, was man nicht haben kann, wünscht man sich meist besonders: im Corona-Jahr 2020 gilt das wohl unter anderem für die SPIEL, die es irgendwie gab, irgendwie aber auch nicht.
Das Spiel ist aus bei der Digital-Messe. Das Fazit? Nicht einheitlich. Den Organisatoren daraus einen Strick drehen? Nicht fair. Und im Übrigen auch nicht angebracht. Trotz aller berechtigter Kritik hat auch die Online-Version der SPIEL geschafft, was man vorher nur der physischen Veranstaltung zugetraut hat: Einander völlig fremde Menschen gemeinsam an einen Tisch bringen.
SPIEL.digital feiert umjubelte und kritisierte Premiere
Zugegeben, nicht alles war toll an der SPIELdigital. Das User-Interface war mitunter verwirrend, die Inhalte oft gleichförmig, manchmal unbeholfen. Aber: Nicht alles war deshalb automatisch schlecht an der Online-Messe, die insgesamt ein erfolgreiches Debüt gefeiert hat. Nun geht es für den veranstaltenden Friedhelm Merz Verlag nicht darum, seine Wunden zu lecken, sondern zu lernen. Und man kann sicher sein, dass die Organisatoren genau das tun werden. Schon die Tatsache, in aller Eile eine digitale Messe auf die Beine gestellt zu haben, nötigt einem Respekt ab. In dem gemischten Stimmungsbild kann man dann sogar ein großes Lob sehen: Die Messe ist mindestens so gut geworden, das der vernichtende Shitstorm ausblieb – in Zeiten des Internet wird man damit fast schon geadelt für eine erbrachte Leistung.
Debattiert wird im Internet derzeit über eine zentrale Frage: Darf man die SPIEL.digital überhaupt kritisieren, wo doch alles kostenlos war? Selbstverständlich. Man muss es sogar tun. Ohne konstruktive Kritik oder Verbesserungsvorschläge verlieren am Ende alle: Fans, Verlage und Organisatoren.
Nun gilt es, die Veranstaltung aufzuarbeiten und sich Lob und Kritik zu Herzen zu nehmen. Sofern die SPIEL.digital erneut stattfindet – in welchem Umfang und aus welchen Gründen auch immer – wird sie nicht die Form, die sie über die vergangenen vier Messetage hatte. Einige Konzepte bleiben bestehen, andere werden verändert, vielleicht gänzlich verworfen. Das ist gut so, weil es genau so sein muss: Es kann bei einem Debüt nicht das perfekte Konzept geben, schon gar keines, das allen Geschmäckern gerecht wird. Auch in Zukunft wird das kaum anders sein.
Im Vorfeld hatte jeder Fan seine eigene Vorstellung davon, wie eine Online-Messe aussehen muss. Und nun, wo es eine Schablone gibt, an der man seine Erwartung messen kann, fällt auf, wie unterschiedlich diese Vorstellungen waren. Von virtuellen Hallen war die Rede, von Spaziergängen durch Online-Welten. Bei genauer Betrachtung erscheint das geradezu absurd: Eine Online-Messe muss leicht zugänglich sein, bezogen auf die Hardware, Steuerbarkeit und Nutzungsdauer. In ein „virtuelle 3D-Welt“ eintauchen, das könnten vermutlich nur die wenigsten Fans. Also lief es konzeptionell auf eine Plattform heraus, die man per Maus und Tastatur ebenso einfach erreichen konnte wie über das Smartphone, einige Einschränkungen inklusive.
Überraschend gut funktioniert hat Online-Brettspielen, solide waren die gebotenen Video-Inhalte, die zwar technisch gut umgesetzt werden, letztendlich aber die nötige Professionalität vermissen ließen, die man für eine Messeveranstaltung als Maßstab ansetzen würde, zumindest wenn man Eintrittsgeld bezahlt. Weil das nicht der Fall gewesen ist, kann man sogar „Team Knuffig“ im schlimmsten Fall einfach abnicken. Dank gebührt den Influencern ohne Zweifel: Sie haben sich leidenschaftlich für ein Projekt eingesetzt, ihr Bestes gegeben und vor der Kamera abgeliefert. Chapeau!
Die Premiere der SPIEL.digital ist erstmal nur ein Prototyp, ein Grundgerüst und damit ein Konzept, auf dem man aufbauen kann. Egal welches Fazit man am Ende zieht, klar ist: Es gibt nichts, das man zukünftig nicht im Sinne der Nutzer anpassen könnte. Das als sperrig empfundene Design? Kann man ändern. Die mangelnde Übersicht? kann man ändern. Die Interpretation der Liste der Neuheiten? Kann man ändern.
Aber: Was man nur schwer ändern kann, ist das Grundprodukt. Gesellschaftsspiele werden immer vorrangig „analoge Unterhaltungsformate“ bleiben, Onlinetechnologien hin oder her. Die Gratwanderung zwischen Brettspiel, Internet und Besuchererwartungen überhaupt zu schaffen, das war für die Organisatoren eine große Herausforderung. Und sie haben sie am Ende trotz aller Widrigkeiten gemeistert.
Auch die Verlage müssen erst noch lernen, mit den neuen Möglichkeiten umzugehen. Den einen gelingt das schneller, andere benötigen vielleicht noch Jahre, bis ein konkurrenzfähiger Auftritt konzeptioniert worden ist, der über die Präsentation von Klappentexten hinausgeht. Was aber hat man als Fan auch erwartet, in einer Zeit, in der die Vorbereitung auf eine Vor-Ort-Messe erst verlangsamt, dann unterbrochen wurde und schließlich abgebrochen werden musste? Man könnte meinen, Corona böte beste Voraussetzungen, um eine Online-Messe auszurichten. Das Gegenteil ist der Fall.
Was es also braucht, ist ein omnipräsenter Kenner, der anleitet, Inhalte steuert, rote Fäden spinnt. Es schien bisweilen so zu sein, als wäre die oft gelobte Vielfalt der Brettspielszene ihr größtes Problem. Besuchern viel es schwer, Inhalte zu entdecken, selbst kleinteilige Filter konnten daran wenig ändern. Gibt es eine Patentlösung? Wohl kaum. Auch die Gamescom hatte nicht vormachen können, wie es richtig geht: Dort hatte man wenige namhafte Medienpartner ins Boot geholt, die Fans dann über mehrere Tage bespaßen sollten. Das war leidlich unterhaltsam. Weniger ist also nicht immer mehr. Man merkt schnell: DAS ideale Format für eine Online-Messe wird es nicht geben, zu unterschiedlich sind die Erwartungen, zu unterschiedlich ist das Nutzerverhalten. Die Vor-Ort-Messe in Essen hat es da deutlich einfacher: Man pfercht einige Tausend Leute in einer Halle zusammen und sagt: „Habt Spaß!“. So simpel das klingt, es funktioniert. Vorrangig liegt das aber an der Erfahrung von Verlage, Organisatoren und Besuchern. Man muss der SPIEL.digital Zeit geben und erkennen: Erst durch die praktischen Erfahrungen kann sich das Format entwickeln. Die tatsächlich Planung der Online-Messe beginnt jetzt!
„Besser als keine SPIEL“ ist allerdings kein Argument für Qualität. Wenn man lobt, dann Vorteile der Online-Messe und nicht die Tatsache, dass es irgendetwas irgendwie existiert. Und die SPIEL.digital hatte ihre Reize: Man konnte sich Zeit lassen beim Spielen, beim Sich-erklären-lassen, die Zahl der virtuellen Tisch ist nicht begrenzt. Jeder kann grundsätzlich spielen was er will und wann er will. Ohnehin bestimmen die Besucherinnen und Besucher bei einer Online-Messe über ihr Konsumtempo, niemand drängelt, niemand drängt – selbst der offizielle Messeschluss nicht, denn viele Inhalte stehen weiterhin zur Verfügung: spiel.digital/de.