Die Zeiten, in denen Brettspiele ausschließlich auf ihr spielerisches Grundgerüst reduziert wurden sind längst vorbei. Moderne Spiele setzen auf eine Kombination aus anmutiger Optik und spannendem Spielablauf.
Kanagawa von Iello ist einer der wohl hübschesten Vertreter aus dem Bereich der taktischen Brettspiele und gleichzeitig der erste Titel, den Iello in Deutschland unter dem eigenen Label veröffentlicht hat. Dass Kanagawa Spieler und Kritiker bereits auf der zurückliegenden Messe in Essen zurecht begeistert hat, zeigt die nachfolgende Rezension zum Brettspiel Kanagawa von den Autoren Bruno Cathala und Charles Chevallier.
Altjapanische Malermeister
Man muss weder Manga-Fan noch Comicliebhaber sein, um an der Optik von Kanagawa Gefallen zu finden. Das taktische Spiel von den Autoren Bruno Cathala und Charles Chevallier gehörte für viele Spieler bereits zu den Highlights der SPIEL’16 in Essen – und es wandert auch jetzt noch regelmäßig auf die Spieltische unzähliger Brettspielgruppen. Die Hintergrundgeschichte des stilvollen Taktikspiels ist schnell erzählt: Der altjapanische Malermeister Hokusai beschloss im Jahr 1840 die Eröffnung einer Schule, in der junge Talente zu meisterhaften Landschaftsmalern ausgebildet werden sollten. Als Standort für die Malschule suchte Meister Hokusai Kanagawa, die Bucht von Tokio aus. Wo sich heutzutage einer der größten Häfen des asiatischen Raums befindet, ging es im Jahr 1840 weitaus beschaulicher zu. Beeindruckende Naturlandschaften und ein durch warme Meeresströmungen bedingtes, mildes Klima sorgten für ideale Lernbedingungen. Der Konkurrenzkampf unter den 2 bis 4 Schülern war so groß, dass nur die richtigen Entscheidungen zum passenden Zeitpunkt den Ausschlag über den möglichen Ausbildungserfolg gaben. Das Brettspiel Kanagawa setzt auf zwei Handlungsalternativen, die den Spielern immer wieder kluge Entscheidungen abverlangen: bleibe ich in der Schule und lerne vom Meister oder nutze ich mein bisher gesammeltes Wissen, um in meinem Atelier an meinem Gemälde zu arbeiten?
Illustrationen als Teil des Spielkonzepts
Bei Kanagawa haben die Autoren Bruno Cathala und Charles Chevallier die Illustrationen nicht als schmuckes Beiwerk aufgesetzt, sondern als festen Bestandteil in die Spielidee aufgenommen. Ohnehin verfestigt sich mit jeder Neuerscheinung der Eindruck, dass es zur Philosophie von Iello gehört, Spiele optisch eindrucksvoll und künstlerisch bedeutsam in Szene zu setzen. Für die Illustrationen von Kanagawa ist die Schweizerin Jade Mosch verantwortlich, die wahrlich Großes geleistet hat. Die Grafiken von Kanagawa sind mehr als nur hübsch: sie sind beeindruckend und charmant, vor allem aber stilvoll.
Das zentrale Element einer Partie ist der persönliche Schulbogen, auf dem in jeder Runde vier Lektionskarten abgelegt werden – teils für alle Spieler sichtbar, teils verdeckt. Von Beginn an dreht sich alles um Entscheidungen. Der jeweils aktive Spieler hat die Wahl, ausgelegte Karten zu nehmen oder abzuwarten.
Stets ist abzuwägen, ob man die sichere Variante wählt oder darauf hofft, dass die anderen Spieler die passenden Karten liegen lassen. Jede Runde endet, sobald sämtliche der 2 bis 4 Spieler die Schule verlassen und ihr Gemälde erweitert haben. Der Clou: aufgenommene Karten müssen auch verwendet werden. Dadurch werden Spieler erneut vor Handlungsalternativen gestellt. Entweder ein Spieler nutzt die farbige Seite, um sein Landschaftsgemälde zu perfektionieren oder aber er verbessert sein Atelier und erweitert die Farbpalette durch Verwendung der braunen Kartenseite. Farbvorgaben und Pinselanzahl bestimmen die Rahmenbedingungen für die Malerei und erfordern daher einige strategische Überlegungen.
Kanagawa im Test: Keine rein oberflächliche Schönheit
Als zusätzliche Elemente kommen die Kartenmotive sowie Jahreszeiten hinzu. Auf jeder der Karten sind unterschiedliche Motive abgebildet: Bäume, Gebäude, Menschen, Tiere oder Landschaften. Einzelne Motive gilt es nun so zu einem Gesamtkunstwerk zusammenzufügen, dass Spieler mit insgesamt 11 Karten eine möglichst hohe Punktzahl erreichen. Die Endabrechnung schließt sich an das Anlegen der elften Karte eines oder mehrerer Spieler an, sodass die Spielzeit von Kanagawa* stets begrenzt und überschaubar bleibt. Punkte werden für unterschiedliche Wertungsregeln vergeben.
Grundsätzlich erhalten Spieler Punkte für die Anzahl der ausgelegten Motivkarten sowie für Kartenketten bestehend aus gleichen Jahreszeiten. Spannung kommt durch die sogenannten Diplome in die Spielpartie. Diplom-Tokens erhalten Spieler für das Erfüllen bestimmter Bedingungen, jedoch maximal eines jeder Sorte. Und so werden zu bestimmten Zeitpunkten erneut Entscheidungen von den Malern abverlangt, die sich direkt auf die Endpunktzahl auswirken. Und so wandern wenige sichere Punkte oder riskante, dafür aber höhere Punktzahlen auf das jeweilige Spielerkonto. Die Auswahl der Diploma ist stets verbindlich und einmalig, sodass Spieler über ihr (An)Spannungslevel selbst entscheiden.
Katsushika Hokusai: Der berühmteste Künstler Japans
Wer bisher dachte, Meister Hokusai sei Spinnerei, der wird an dieser Stelle der Brettspiel-Rezension eines Besseren belehrt. Katsushika Hokusai lebte tatsächlich, nämlich von 1760 bis 1849. Er gilt als einer der berühmtesten Künstler in der japanischen Geschichte und war zu Lebzeiten der Meister des Farbholzschnittes. Weil Kanagawa im Jahr 1840 spielt, wird deutlich, weshalb es für Meister Hokusai so wichtig gewesen sein musste, einen neuen Meisterschüler zu finden. Mit insgesamt 30.000 Arbeiten dürften Schaffenspausen kaum zu Hokusais Überzeugung gehört haben. Rund 337 Werke pro Jahr und damit ca. ein Kunstwerk pro Tag verdeutlichen den künstlerischen Drang des Meistermalers, der jenseits des Sumida-Flusses lebte und arbeitete.
Infobox
Spielerzahl: 2 bis 4 Spieler
Alter: ab 10 Jahren
Spieldauer: 35 bis 50 Minuten
Schwierigkeit: mittel
Langzeitmotivation: hoch
Verlag: Iello
Autor: Bruno Cathala, Charles Chevallier
Erscheinungsjahr: 20176
Sprache: deutsch
Kosten: 30 Euro
Fazit
Nähmen wir an, Kanagawa wäre ein spielerisches Desaster. Die optische Brillanz des Brettspiels würde dennoch überzeugen. Glücklicherweise ist Kanagawa von Bruno Cathala und Charles Chevallier jedoch ein Spiel für Auge und Verstand – aufgrund der charmanten Illustrationen vielleicht sogar für das Herz. Die beiden Autoren, die bereits das Brettspiel Abyss gemeinsam entwickelten, haben ein echtes Highlight für Spielbegeisterte geschaffen. Hinter dem relativ simplem Grundgerüst von Kanagawa steckt viel mehr als man zunächst vermuten würde. Der taktische Tiefgang wird mit jeder weiteren Partie deutlicher, sodass Kanagawa zu immer neuen Spielrunden motiviert. Stets dreht sich alles um Entscheidungen, die den persönlichen Spielablauf unmittelbar und nachhaltig beeinflussen.
Dennoch ist Kanagawa kein perfektes Spiel. Spürbar wird dieser Umstand in Partien zu zweit, weil die verfügbare Kartenauslage größer ist. Der Spielablauf wirkt dadurch spannungsärmer und allein aufgrund der geringen Spielerzahl weniger interaktiv. Dadurch verliert das Bonussystem ein wenig von seinem Reiz; gleichzeitig wird jedoch die Kartenverwaltung umständlicher – eine umfangreiche Kartenauslage ist daher zumindest bezüglich des Spielablaufs kein wirklicher Vorteil. Mit drei oder gar vier Spielern entfaltet Kanagawa jedoch das volle Potential.
Spiele wie Kanagawa verstärken den Eindruck, Iello verbinde bei Brett- und Kartenspielen Unterhaltung mit Staunen. Gleichzeitig ist dieses Spiel ein hervorragender Einstieg in die Welt des Spielens, einfach weil deutlich wird, welche hohe Qualität moderne Brettspiele spielerisch und optisch erreichen können. Schon die Autorennamen verkünden spielerischen Anspruch: Titel wie Five Tribes, Schatten über Camelot oder Mr. Jack sind nur eine Auswahl der Projekte, denen Bruno Cathala seinen Stempel aufgedrückt hat. Mit Kanagawa hat er, gemeinsam mit Charles Chevallier, ein Brettspiel erschaffen, das zeitlos und in seiner Art unvergesslich ist. Mit diesem Spiel hat Iello die perfekte Wahl für den Einstieg ist die Selbstveröffentlichung von Spielen auf dem deutschen Spielwarenmarkt getroffen.