Die Zukunft der Brettspiele sind Videospiele – es ist eine gewagte These, aber die jüngste Entwicklung in beiden Branchen deutet mindestens auf eine deutlichere Verschmelzung hin. Virtuelle Brettspiel-Umgebungen wie Vassal, Tabletop Simulator oder Board Game Arena werden nicht nur populärer, die angebotenen Spieletitel werden auch für Vielspieler immer attraktiver. Zumindest ein Teil der Brettspielszene könnte so hinüber wandern in das andere Lager. Gründe gibt es viele. Eine Meinung.
Man könnte düstere Szenarien zeichnen: Um Gesellschaftsspiele steht es schlecht; Brettspiele sterben aus; Spielerunden finden keine Mitspieler mehr; Niemand kauft Brett- und Kartenspiele. Nichts davon stimmt. Die Spielwarenbranche erlebt seit der Corona-Pandemie einen regelrechten Boom. Gesellschaftsspiele sind so gefragt wie niemals zuvor. Und ohnehin ist der Wert gemeinsamer Spielrunden seit den langen Phasen des Verzichts durch die Viruslage so deutlich spürbar wie selten in der Vergangenheit. Und dennoch: Brettspiele kommen Konkurrenz aus einer Richtung, aus der man das vor wenigen Jahren gar nicht erwartet hat – aus dem Internet.
Der Brettspieltreff im Internet
Es ist paradox: Brettspiele bekommen Konkurrenz von Brettspielen. Genauer: von digitalen Brettspielen, also Adaptionen von bereits existierenden „analogen“ Titeln. Plattformen wie Tabletop Simulator oder Board Game Arena sind gefragt, immer wieder werden die Spielebibliotheken dort um Neuheiten erweitert – alles läuft jedoch bislang in einem vergleichsweise gemächlichen Tempo ab. Sollte sich das ändern, digitale Brettspiele also mehr denn je boomen, könnte die das Gleichgewicht verschieben.
Das Brettspiel – bislang als Prototyp für ein physisches Produkt verstanden – wird dann vor allem aus zwei Dingen bestehen: Einsen und Nullen.
Der Trend wird sich nicht aufhalten lassen – aus mehreren Gründen. Die Technologien hinter digitalen Brettspielen werden besser. Und sie werden in einigen Bereich günstiger. Moderne Tabletop-Videospiele sind nicht nur nah an ihren Vorlagen, sondern sehen auch noch gut aus. Sie fangen die Optik der Brettspiele treffsicher ein, bereichern das Spielerlebnis zudem um Animationen, Soundeffekte und Musik. Das bedeutet eine dichtere Atmosphäre insbesondere für jene Titel, bei denen es darauf ankommt: Dungeon Crawler mit einer Story, Kampagnenspiele, strategische Brettspiele mit Kampfsituationen beispielsweise. Die Liste der Brettspiele oder Genres, die von einem stärkeren Fokus auf audiovisuelle Inhalte profitieren würden, lässt sich fortsetzen.
Hinzu kommt, dass die technische Präsentation sich besser zu den Kunden bringen lässt. VR- und AR-Peripherie sind derzeit noch Nischenprodukte, ihre Zeit für den Massenmarkt wird es noch kommen. Auch Brettspiele in digitaler Form werden dann darauf zu spielen sein. Dass man den Schritt wagen möchte, zeigt bereits die Umsetzung des Klassikers Catan als „Catan VR“. Das alles wirkt derzeit noch wie ein Experiment, aber es deutet eine Zielrichtung an. Sogar gemeinsame Spielerlebnisse am (virtuellen) Tisch wären dann auf einem anderen Leven möglich. VR könnte die aktuell gängige Kombination aus Brettspiel-Simulator und Videostream ablösen – die Erfahrung wäre eine deutlich andere. Eine immersivere.
Und selbst ohne VR oder AR werden digitale Brettspiele als Genre an Fahrt aufnehmen. Studios wie ehemals Asmodee Digital (nun: Twin Sails Interactive) besetzen den Markt mit immer hochkarätigeren Titeln. Gloomhaven, Räuber der Nordsee, Terraforming Mars, Games of Thrones: Das Brettspiel oder Im Wandel der Zeitalter – all diese Brettspiele lassen sich längst auf dem Computer, Smartphone oder Tablet spielen. Alleine oder in Gemeinschaft.
Letztere ist eines der schlagkräftigsten Argumente für Brettspiele. Das gemeinsame Spielerlebnis in Präsenz scheint unschlagbar zu sein, wenn es das das „Freizeiterlebnis Brettspiel“ geht. Das hat sich inzwischen aufgeweicht: Zusammen spielen ja. Präsenz ist allerdings spätestens seit den erfahrenen Alternativen während der Corona-Pandemie kein Muss mehr. Man schaltet sich per Videostream zusammen, überwindet Distanzen, und macht das viel unkomplizierter als die Terminierung einer Spielerunde. Schon vier Erwachsene an einen Tisch zu bekommen, kann eine Herausforderung sein. Mit Online-Brettspielrunden hat zwar nicht mehr Zeit, aber man kann sich deutlich spontaner organisieren. Digitale Brettspiele und ihre dahinterstehenden Plattformen sind also pragmatische Lösungen. Das ist zumindest verlockend.
Ebenfalls pragmatisch an digitalen Brettspielen ist der Wegfall der Vor- und Nachbereitung beim Aufbau. Kein mühsames „Auspöppeln“ – ja, nicht jeder mag es; kein Aufbau samt Materialsucherei, und am Ende auch kein Abbau. Einen großen Tisch bräuchte es dann ohnehin nicht mehr, allenfalls einen großen Bildschirm oder wahlweise einen gemütlichen Computer- oder Konsolenplatz. Es sind Details, die eingefleischte Brettspielende wahrscheinlich nicht als Makel sehen – bei Einsteigern ist da jedoch vermutlich anders. Für sie wirken Handlungen vom Kartenmischen bis hin zum Token-Verteilen lästig, je nach Umfang der Vorbereitung können die notwendigen Handgriffe echte Stimmungskiller sein.
Die Szene der digitalen Spieleplattformen hat sich im Verlauf der Jahrzehnte nicht nur weiterentwickelt, sie hat sich professionalisiert. Tabletop Playground oder Tabletop Simulator, aber auch browserbasierte Lösungen wie Board Game Arena, D&D Beyond oder Untap.in starteten meist als Fan-Projekte – inzwischen stehen dahinter jene Unternehmen, die in der Spielwarenbranche fest verwurzelt, mitunter sogar Marktführer sind. Schon das deutet darauf hin, dass digitale Brettspiele keine Randerscheinungen mehr sind und man das Genre wachsen lassen will. Für die Spielehersteller ergeben sich viele Vorteile: keine teure Produktion samt noch teurerer Logistik, weniger Preiskämpfe, Möglichkeiten der Analyse des Spielerverhaltens.
Anschaffungspreise spielen digitalen Formaten derzeit ohnehin in die Karten. Statt sich Gloomhaven für rund 120 Euro als Brettspiel kaufen zu müssen, kann man die Adaption für einen Bruchteil dieses Preises erstehen. Dabei ist Gloomhaven noch eines der weniger praktikablen Beispiele, denn zumindest im Mehrspielermodus benötigt jeder eine Variante des Kampagnenspiels. Die Kosten könnte man also ebenso beim Brettspielkauf aufteilen.
Geld spielt immer eine Rolle
Dennoch: Geld spielt eine bedeutende Rolle. Immer mehr. Brettspiele sind Luxusgüter geworden, vor allem im Vielspieler-Segment. Preise von 70, 90 oder gar 120 Euro sind keine Ausnahmen mehr, sondern die Regel. So richtig absurd wird es im Crowdfunding-Bereich. Dort kosten Miniaturenspiele mit jeder Menge Material mehrere Hundert Euro. Die Corona-Pandemie hat das Preiskarussell nochmal deutlicher schneller zum Drehen gebracht. Gestiegene Kosten für Produktion und Logistik schlagen sich in den Endpreisen für Brettspiele nieder – und auch die jüngste Krise um Energieverteuerungen und nicht zuletzt die Inflation werden mittelfristig für weitere Preissteigerungen sorgen. Physische Brettspielprodukte sind anfälliger als ihre digitalen Versionen – bislang ist es so, dass Adaptionen auf existierenden Brettspielen fußen. Ist es zukünftig möglich, dass erste die digitalen Spiele erscheinen und dann ihre gedruckten Varianten? Definitiv.
Im Zuge der Digitalisierung könnten Prototypen besser am PC entwickelt werden, um dann zu einem fertigen Produkt heranzureifen. Im Crowdfunding-Segment sieht man längst, dass Brettspiel-Demos mächtige Marketinginstrumente sein können. Mächtiger als jedes bezahlte Youtube-Video. Spieler können sich direkt selbst von der Qualität eines Brettspiels überzeugen.
Zunutze machen Verlage und Autoren sich die digitalen Möglichkeiten längst, etwas für das Spieletesten. Das ist mit einer deutlich größeren Menge als Spielern möglich und gleichzeitig günstiger: Weil man schlicht auf die Herstellung von Prototypen verzichten kann.
Auch innerhalb der Redaktion ist das Thema umstritten. „Allein die Möglichkeit, Spiele über TTS zu testen um sich anschließend zu entscheiden, ob man das Spiel wirklich haben möchte, ist glaube ich ein großer Faktor“, meint hierzu unser Redakteur Sven Karsten. „Bei Crowdfunding-Kampagnen schneiden Spiele mit einer Demo gefühlsmäßig meist etwas besser ab“. Er ist am Ende trotzdem der Ansicht, dass „das digitale Segment nie das analoge Segment überholen wird“. Der Grund ist so offensichtlich wie häufig genannt: das Miteinander-Sein ist einfach ein zu großer Faktor.
Und tatsächlich kann man dagegen wenig einwenden: Wer Gesellschaftsspiele der Gesellschaft wegen spielt, wird Präsenzrunden vermutlich stets vorziehen. Videostreams oder reine Audiotalks sind dann meist keine echten Alternativen.
Unser Autor Tim Nissel hat längst Vorteile von digitalen für sich entdeckt: „Ich spare mir das nervige aufbauen“. Sein Beispiel: der Kartograph von Pegasus Spiele. „Ich hole extra Kartograph aus dem Regal und muss selber Karten umdrehen und Formen einzeichnen – oder klicke ich munter auf der App rum“, scherzt er. Insbesondere die App hat eine weitere Stärke: man kann nahezu überall spielen. „Ich kann überall spielen“, meint auch Tim, „aber oftmals nur alleine“. Das allerdings müsse kein Problem sein. „Kein Aufbau, keine regelwidrigen Züge möglich, aber meistens auch keine Korrekturmöglichkeit“, so sein Fazit. Und noch etwas spricht ihn besonders an: Spiele mit Freunden spielen zu können, die weit weg wohnen.
Was man bei Brettspielen allzu gern häufig vergisst (danke für den Leserhinweis!), ist die haptische Komponente. Der Mauszeiger und auch Touchgesten können nicht ersetzen, was man bei einem Brettspiel am Tisch tut: Echte Karten in den Händen halten, Würfel werfen und hoffen, man könne die Physik und den Zufall beeinflussen, Figuren anfassen und über ein Spielbrett schieben – Gesellschaftsspiele spielen heißt also auch, mehr Sinne anzusprechen. Ob das ein Muss ist? Womöglich ist es Geschmackssache. Unstreitig ist es es Teil des Brettspielerlebnisses.
Viele neue Spieler
Zahlen untermauern den Trend übrigens: Steams Tabletop Simulator erlebte zu Corona-Zeiten einen kleinen Boom. Im Frühjahr 2020 stiegen die Spielerzahlen sprunghaft um rund 150 Prozent. Tausende neue Spieler fanden den Weg hin zu digitalen Brettspiel-Formaten. Inzwischen hat sich der Betrieb normalisiert, die Zahlen liegen aber dennoch rund doppelt so hoch wie vor der Viruslage. Das deutet darauf hin, dass Spieler, die von der verbotenen Frucht gekostet haben, sie danach weiter essen. Asmodee hat das Potenzial längst erkannt: der Konzern kaufte mit Board Game Arena eine der populärsten Plattformen einfach auf. Und Mega-Konzern Embracer Group kaufte gleich Asmodee – die schwedische Gruppe wildert bei Videogames wie im Spielwarensektor.
Ein Manko bleibt am Ende: Man ist abhängig von der Technik. Geht der Computer kaputt, oder die Konsole, hat es sich erst einmal ausgespielt. Bei Online-Mehrspielertiteln steht und fällt alles mit der Internetverbindung. Glasfaser regelt, sogar in Deutschland. Irgendwann.
Der Markt könnte in der Übergangszeit für so manche Kuriosität sorgen, man kennt auch bereits von Videospielen. Dort gibt es Boxen zu kaufen, die enthalten nicht mehr als einen Download-Key. Paradox? Ja. Aber auch clever: denn es bringt reine Download-Titel dennoch in die Einzelhandelsregale. Auch bei Brettspielen ginge das. Man schlendert mit der Packung von Terraforming Mars zur Kasse, bezahlt und installiert zu Hause den digitalen Ableger per Seriennummer. Ressourcenverschwendung? Ja. Aber eben auch Präsenz im stationären Handel trotz Digitalisierung.
Vermischt haben sich die Parteien ohnehin: Es gibt hybride Brettspiele, die sich ausschließlich per App-Unterstützung spielen lassen. Es gibt Begleitapplikationen, Erklär-Apps, Sound-Apps, Tracking-Apps. All das sind kleine Wegweiser, die sich inzwischen summieren.
Ob das Brettspiel aussterben wird? Vermutlich nicht, denn die Magie einer Präsenzspielrunde ist kaum zu ersetzen, weil das soziale Miteinander mehr ist als bloße spielmechanische Handlungen. Der Mensch als Gewohnheitstier ist ohnehin oft schwer von Neuem zu überzeugen. Also benötigen digitale Brettspiele vor allem eines, um sich durchsetzen zu können: Zeit. Davon haben sie genug. Die fortschreitenden Technologisierung der Welt spricht für einen Boom. Nicht heute, nicht morgen, aber er wird kommen.
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