So nah, so alltäglich und so persönlich wie in Peter Jackson´s Dokumentarfilm They Shall Not Grow Old hat man Krieg noch nicht auf der Kinoleinwand erlebt. Der erste Weltkrieg ist erstmalig in Farbe in den Kinos zu sehen. Unser Redakteur Markus war dabei.
Das kreative Schaffen des neuseeländischen Filmregisseurs Peter Jackson gleicht einem Kaleidoskop. Dieses Spielzeug, eine Art Fernrohr welches den Blick auf eine wilde Zusammenstellung von bunten Formen, Mustern und Bildern richtet. Bewegt man dieses Kaleidoskop oder schaut aus einem anderen Winkel drauf ergibt sich ein vollkommen neues Bild – und trotzdem besteht es immer aus den selben bunten Formen, Mustern und Bildern.
Nun stellen wir uns mal die Filmographie von Peter Jackson bildlich vor so sehen wir heutzutage kaum ein Genre mehr welches er nicht verarbeitet hat. Klar, am meisten zu seinem Ruhm trug die komplette Herr der Ringe-Saga bei, welche gemeinsam mit den Filmen zu „Der Hobbit“ zu seiner eigenen weltweiten Berühmtheit beitrugen, aber auch dem Autoren J.R.R. Tolkien nachträglich zu einer Renassaince verhalfen und auch dem letzten Literatur- und Kinoliebhaber in Erinnerung riefen.
Aber auch Horrorslasher wie Braindead, schwarzhumorige Grotesken ala Meet the Feebles, Hollywood-Action ala King Kong oder die familientaugliche Verfilmung von Tim und Struppi tragen zu Peter Jacksons legendärem Ruf bei. Mit They Shall Not Grow Old kam im Juni diesen Jahres sein erster Dokumentarfilm in die deutschen Kinos. Und erneut setzt er Maßstäbe – auf seine ganz eigene Art hinterlässt er mich sprachlos in dem er den zahlreichen Soldaten der Britischen und Commonwealth Staaten des Ersten Weltkrieges ein ganz persönliches Denkmal setzt.
Als am 11. November 1918 die letzten Schüsse an den Fronten des Ersten Weltkrieges fielen herrschte Totenstille. Vier Jahre lang kämpften insgesam 40 Nationen einen noch nie zuvor gesehenen, weltweiten Konflikt miteinander aus. Vier Jahre lang standen in Summe 70 Millionen Menschen „unter Waffen“. Wir kennen diese Szenen aus den Schützengräben, den zerbombten und zerfurchten Gebieten heutzutage in den meisten Fällen aus zwei vollkommen unterschiedlichen Perspektiven. Wir kennen die hollywoodtauglich aufbereiteten und geschauspielerten Szenen aus Filmen wie „Die Generation der Verdammten“, dem jüngst angekündigten 1917 von Sam Mendes oder Videospielen wie Battlefield 1 auf der einen Seite – oder den fremd und fern wirkenden originalen schwarz-weißen Filmaufnahmen. Grobkörnig und farblos. Nahezu aus einer fremden Welt. Auf keinen Fall real für uns.
Doch was Peter Jackson in They Shall Not Grow Old auf die Leinwand bringt sprengt die zuvor gesetzten, bekannten Grenzen. Er bastelte eine Collage die näher an der Lebenswirklichkeit der Millionen Soldaten kratzt als alle zuvor veröffentlichten Dokumentationen. Als der Dokumentarfilm im Oktober 2018 beim London Film Festival seine Weltpremiere feierte wurde der Öffentlichkeit erstmal bewusst wieviel Arbeit der Filmemacher in den Titel steckte. 100 Stunden Videomaterial treffen auf 600 Stunden Tonaufzeichnungen und ergeben einen eindrucksvollen Einblick in eine andere Zeit. In mühevoller technischer Arbeit passten Peter Jackson und sein Team die Geschwindigkeit der sonst eher hölzern wirkenden Bildabfolgen einem Niveau an welches uns als Zuschauer angenehm und „normal“ wirkend vorkommt und unseren vertrauten Sehgewohnheiten entspricht. Dazu wurden die Aufnahmen Bild für Bild nachcoloriert, digital überarbeitet und geglättet um diese authentischer wirken zu lassen. Oder, wie Jackson es beschreibt: „Wenn man erst mal diesen komischen Charlie-Chaplin-Schwarz-Weiß-Look los ist, sieht man: Die Leute sind genauso wie heute.“
Neben der Bildbearbeitung gelang ihm ein weiterer, genauso wichtiger Kniff: Ein Team von Lippenlesern sichtete das tonlose Videomaterial, erarbeitete die Gesprächsinhalte der gefilmten Soldaten und ordnete ihnen die dazu passenden Tonaufnahmen zu, ließ diese mitunter sogar nachsprechen. Dabei griff man auf die Sprachaufzeichnungen hunderter Soldaten zurück, kombinierte all diese Ergebisse und schuf dieses beeindruckende Alleinstellungsmerkmal: Wir fühlen plötzlich mit den jungen Soldaten, hören ihr Lachen und spüren ihre Angst.
Die schier unendliche Auswahl des Videomaterials aus dem Imperial War Museum in London sorgt dafür dass wir uns im Verlaufe des Filmes nicht einem einzelnden Handlunsstrang zuwenden, uns nicht auf einen Soldaten beschränken. Durch die Fülle an Material ist zwar dafür gesorgt dass sich die Handlung für uns aus der Beobachterperspektive auf die Westfront beschränkt, dabei begleiten wir allerdings weder einem bestimmten Einsatz noch erfahren wir was über den speziellen Befehl einer Kompanie. Wir beobachten den Alltag aller Soldaten, erhalten in anderthalb Stunden einen Rund-um-Blick über das Leben der gesamten Britischen Soldatenschaft.
Wir begleiten die Soldaten, zu Beginn noch in schwarz-weiß, im Laufe des 99 minütigen Films von ihrer anfänglichen Euphorie der Einberufungszeit, die harten Trainingseinheiten als Vorbereitung auf den Einsatz – und wir sehen letztlich auch die Wandlung von motivierten, durchtrainierten jungen Kämpfern hin in die ausgemergelten Gesichter. Plötzlich wird aus den farblosen Bildern sowas wie Nähe. Mit dem Eintreffen an der Front, den ersten Kampfhandlungen lässt Jackson die farblosen Aufnahmen hinter sich. Die schwarz-weißen Dokumentaraufnahmen sehen plötzlich aus wie die vertrauten Urlaubsaufnahmen unserer Eltern. Nicht was die Urlaubsorte angeht, aber die Bilder wirken als würde man mit einer heutigen Kamera im Jahre 1914 unterwegs sein. Die Bilder berühren uns persönlich.
Mit diesem Kunstgriff macht Peter Jackson den Alltag der 9.000.000 britischen Soldaten für uns als Zuschauer, geschützt durch die Kinoleinwand und durch über 100 Jahren Abstand, ein Stück greifbarer. Die nachträgliche Bearbeitung sämtliches Filmmaterials macht es nahbarer, für uns ein Stück realistischer – es holt den Alltag der Soldaten näher an unseren Alltag.
In dem gut anderthalbstündigen Film begleiten wir die Soldaten über die vier Jahre dauernden Kämpfe hinweg. Wir sehen die Verletzten. Und wir sehen die Toten des Krieges. Es wird gelacht und geweint. Gefeiert, getrauert und gewartet. Wenn der Film in seinem Verlauf an Farbe hinzugewinnt und durch den Einsatz der Technik an Distanz verliert werden wir Teilhaber an den privaten Gedanken junger Soldaten. They Shall Not Grow Old ist kein Film der besonders durch seine Action brillieren will. Keiner der nur schocken will oder nur unterhalten will. Aber er schafft es von allem ein bisschen zu liefern. Er ist kein Film der jedem gefallen will, und keiner der von jedem geschaut werden muss. Das Thema Krieg eignet sich ja nicht für jeden als Thema in einem Unterhaltungsmedium. Aber es wäre schön wenn er von vielen gesehen werden wollen würde.
Letztlich schafft Peter Jackson mit They Shall Not Grow Old ein Denkmal für eine Generation verlorener junger Männer, gibt den anonymen Toten des bis dahin größten Konfliktes aller Zeiten einen Namen und ein Gesicht und regt zum Nachdenken an. Über die Sinnlosigkeit des Krieges, über falsche Versprechen und die Absurdität die dort auf die oft noch jugendlichen Soldaten wartete. Aber auch die Hoffnungen, die Freundschaften und den Zusammenhalt in dunklen Zeiten – wenn sich das Kaleidoskop nach anderthalb Stunden weiterdreht und die Sicht auf ein neues, buntes Kunstwerk frei gibt.
In Großbritannien lief der Film bereits auf BBC, außerdem wurde er kostenlos im Imperial War Museum gezeigt und steht Schulen zu Lehrzwecken zur Verfügung. In Deutschland startete der Film am 27. Juni 2019 und hat eine FSK-Altersfreigabe ab 16 Jahren. In vielen Kinos in Deutschland läuft er aktuell immer noch.
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