Seit einigen Jahren schon unterliegt die Brettspiel-Branche einem stetigen Wandel. Klar, Entwicklungen gab es schon immer, mal spürbare, mal subtile – nun allerdings haben Prozesse an Fahrt aufgenommen, die unaufhaltsam zu sein scheinen, und die das Hobby deutlich verändert haben und weiter verändern werden.
– ein Kommentar von André Volkmann
Es gab Zeiten, das waren Brettspiele einfach nur Spiele. Das hat sich verändert. Massiv sogar. Mit Auswirkungen auf alle Akteure: Spieler, Autoren, Verlage. Letztere bringen nicht selten kiloschwere Materialboxen auf den Markt, die dann – ebenfalls gar nicht so selten – Spielbestandteile enthalten, die eher den Preis in die Höhe treiben soll als spielerisch tatsächlich nutzbringend zu sein. Autoren überschlagen sich mit Mechanik-Kopplungen, um Spielern möglichst komplexe Handlungen zu ermöglichen, die Partien nicht um Minuten, sondern um Stunden verlängern. Und die Spieler? Sie büffeln intensiv dutzende von Anleitungsheftseiten, studieren Referenzhandbücher und sind so eifrig bei der Sache als ginge es um eine wissenschaftliche Ausarbeitung.
Teuer ist immer besser?!
Selbst komplexeste, hunderte Euro teure Materialschlachten – am besten noch als Sammleredition mit unnötigem Schnickschnack getarnt – finden in der modernen Brettspielwelt ihre Abnehmer. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, über den Trend hin zu immer vielschichtigeren Spielen dagegen schon – und auch über die Anzahl an Neuerscheinungen.
Sind regelüberladene Brettspiele, meist liebevoll als Eurogames bezeichnet, einfach nur langweilig? Mitnichten. Zumindest nicht überwiegend. Dennoch: Immer häufiger scheint die Spannungskurve bei komplexen Brettspielen kurz nach der Hälfte der des Spielverlaufs deutlich ab – und plätschert dann auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau bis zur – teilweise als erlösend empfundenen – Punktewertung. Optimierungsphase nennen Experten das, durchschnittliche Brettspieler werden angesichts trockener Zahlenreiterei vermutlich nur mit dem Kopf schütteln.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die erfahrenen Spieler haben alle Mechaniken gesehen, alle Interaktionsmöglichkeiten bereits bei irgendeinem Titel ausprobiert, im Rahmen ihres Lernprozesses viele falsche und wenige günstige Entscheidungen getroffen – die Autoren haben leider schlicht vergessen, das Spiel auch zu einem spannenden Zeitpunkt enden zu lassen. Anstatt mit den gewonnenen Erfahrungen motiviert in eine neue Partie starten zu können, dominiert der Optimierungszwang die Spieler und langweilt sie bis zum bitteren Ende. Es gibt Titel, die lassen Spieler teilweise über Stunden mit ungünstigen Entscheidungen hantieren anstatt tatsächlich mit Lerneffekten zu arbeiten. Ohnehin fühlen Expertenbrettspiele sich nicht selten genau danach an: Arbeit.
Und was ist mit Spaß? Kommt auch auf, allerdings bei komplexen Brettspielen oft nur in der Stammbesetzung. Neueinsteiger haben kaum Chancen, sich in einer erfahrenen Gruppe behaupten zu können. Nicht, weil sie es nicht grundsätzlich könnten, sondern weil sperrige Spiele das kaum zulassen. Zu relevant sind Vor- und damit Lernerfahrungen.
Und doch gibt es wieder Licht, wo vormals nur Schatten lag: Immer häufiger setzen moderne Brettspiele auf narrative Elemente, erzählen Geschichten, drängen mit Inhalten und nicht Mechaniken auf das Weiterspielen – manchmal kommen Apps zum Einsatz. Technische Hilfsmittel, die aus dem Alltag kaum wegzudenken sind, in den Köpfen „echter Brettspieler“ aber eigentlich nicht vorkommen dürfen.
„Analog“ und „digital“ als Gegensätze vermischen? Ein Unding. Fast im selben Atemzug wird Youtube angeworfen, um Influencern bei wilden Kamerafahrten durch das – mal mehr, mal weniger ausgeräumte – Wohnzimmer zuzuschauen. „Regalbesuch“ nennt man das und es ist eines der Formate, die man als Synonym für das moderne Brettspielen verstehen kann: Zeig was du hast, dann sag ich dir, was du bist. Aufs Spielen allein kommt es längst nicht mehr an, Brettspieler sind Sammler. Und auch das hat sich verändert: Sammeln ist im Grunde kein Sammeln, sondern hemmungsloser Konsum. Etwas von Wert ermitteln und danach suchen, das müssen Brettspielsammler nur noch selten. Die heiße Ware kommt zu ihnen, meist über Crowdfunding-Portale, auf denen Brettspiele sich wöchentlich unter Rückgriff auf Superlative den Spieler anbiedern. Dass es die immer gleichen „Faces“ der Branche sind, die von „awesome“ über „best“ bis „great“ mit werbewirksamen Adjektiven um sich werfen – Schwamm drüber.
Und so wachsen die Regale der Spieler in die Höhe, die „Regalbesuche“ werden länger, die Anpreisungen offensiver: Wo einst „awesome“ ausreichte, müssen nun noch „gorgeous“ oder „beautiful“ als differenzierende Zusätze herhalten, damit man bei der Fülle an neuen Projekten überhaupt noch Unterscheidungsmerkmale finden kann.
Mit jedem neu angeschafften Brettspiel wächst nicht selten auch der „Pile of shame“, jener Haufen, auf dem nach dem Kauf ungespielte Titel landen. Man kommt vor lauter Einkaufslust kaum dazu, den Stapel abzuarbeiten – und so boomen auch die Flohmarkt-Gruppen, in denen Brett- und Kartenspiele manchmal unter, manchmal weiter über ihrem Wert angeboten werden. Irgendwie muss man den Mist, den man gekauft hat, aber eigentlich gar nicht haben wollte, ja auch wieder loswerden. Nicht etwa, um ein Loch in der Haushaltskasse zu stopfen, sondern um Platz zu machen für die nächsten Käufe, die dann zu Verkäufen werden – oder in einer Sammlung ohne Wert gesammelt werden. Nach einem begehrten Klassiker von früher suchen und freudig spielen? Unnötig. Die Verlage werfen einfach Neuauflagen auf den Markt. Bunter, üppiger, teurer, oft mit Miniaturen aufgepeppt, die bei den meisten Spielern ihr trauriges, graues Dasein fristen.
Und doch formiert sich Widerstand in der Community, der seinen Höhepunkt in einer zentralen findet: „Brauch ich überhaupt Spiel A wenn ich schon Spiel B habe?“ Dahinter steckt mehr als Selektion von Redundanzen. Es ist für Autoren und Verlage ein Signal dafür, dass man sich vermutlich über viel zu lange Zeit nur auf Mechaniken und Material konzentriert hat.