Die Internationalen Spieltage stehen bevor. Weil ein Virus in diesem Jahr vieles durcheinanderwürfelt, findet die SPIEL in einem neuen Format, als reine Online-Messe, statt. Angesichts der digitalen Überangebote, die täglich auf Nutzer einprasseln, könnte man diesen Schritt einfach abnicken, vielleicht ignorieren, weil man „mit digitalen Messen ja nichts anfangen kann“. Dabei ist das, was derzeit mit den Internationalen Spieltagen passiert, ein historischer und längst überfälliger Schritt – für Fans, Aussteller und Veranstalter.
– ein Kommentar von André Volkmann
Was einst Anfang der Achtzigerjahre als fixe Idee eines etwas größeren Spieletages in der Essener Volkshochschule begann, hat sich längst zu einem festgeschriebenen Termin für die Branche etabliert: Im Oktober findet mitten im Ruhrgebiet, die SPIEL statt. Das ist fast so etwas wie ein Gesetz. Nichts konnte bisher daran rütteln, dass die Internationalen Spieletage in den vergangenen Jahrzehnten in Essen zelebriert werden – bis jetzt. Ein Virus hat geschafft, was vormals unmöglich erschien. Der für das bloße Auge unsichtbare, aber doch so spürbare Organismus hat den veranstaltenden Friedhelm Merz Verlag unter Druck gesetzt: Die SPIEL einfach absagen? Ohne die modernen Internettechnologien zumindest ansatzweise zu nutzen? Das war scheinbar undenkbar. So rigoros der Verlag die richtige Entscheidung, die physische Messe abzusagen, durchgesetzt und begründet hat, so stark engagiert man sich für eine rein digitale Version der beliebten Messe – und zwar gegen so manche Widerstände. Sich einfach zu freuen auf das, was kommt? Kaum denkbar, irgendwie „undeutsch“.
SPIEL.digital: Konsequent, nicht selbstverständlich
Selbstverständlich ist die Durchführung der SPIEL.digital nicht, eine konsequente Entwicklung hingegen schon. Von einer Messe wie den Internationalen Spieltagen hätte man das nicht erwartet, immerhin stand bisher der Grundsatz „Komm, spiel mit!“ für analoges Spielvergnügen, vor Ort in Essen, gemeinsam mit anderen, die nicht nur irgendwie dabei sind, sondern einem gegenübersitzen. Der Friedhelm Merz Verlag hat mit seiner Entscheidung pro SPIEL.digital einen historischen Schritt gewagt – und einen, der in der heutigen Zeit längst überfällig gewesen ist. Nicht zuletzt kann man das daran erkennen, dass die SPIEL.digital zwar ein neues Format ist, sich aber jener Technologien und Angebote bedient, die auch in der Brettspiel-Branche längst zum Standard gehören: News zu Brettspielen findet man längst nicht mehr nur auf Papier, sondern auf unzähligen Blogs, Medien-Portalen, Community-Seiten, Foren oder als Unterhaltungsformate in Video- oder Audio-Formaten.
Mehr noch: Spieler informieren sich über Brettspiele, Kartenspiele oder Spielzeuge nicht mehr nur im Internet, sie spielen sogar über Online-Plattformen – gemeinsam. Etwa über Steam, wo PC-Adaptionen zu Brettspielen inzwischen vermehrt zu finden sind, oder über Plattformen wie Tabletopia. Das ist inzwischen mehr als eine Randerscheinung: Im Jahr 2015 durch rund 2.500 Unterstützer via Crowdfunding finanziert, gilt die Plattform bei Branchenkennern heute als Standardmaßnahme, um gemeinsam online zu spielen. Erst recht in Corona-Zeiten, wo das gemeinsame Spielen nach der ersten, mächtigen Viruswelle eine notwendige Herausforderung bleibt.
Was der veranstaltende Friedhelm Merz Verlag also tun musste, war nicht, völlig neue Möglichkeiten zu entwickeln, sondern die Mehrzahl an Angeboten auf einer nutzerfreundlichen Plattform zusammenzuführen. Die SPIEL.digital ist also nicht unbedingt innovativ, aber bislang einmalig in der Geschichte der Internationalen Spieltage, vor allem aber ein cleverer Schachzug, der am Ende der gesamten Branche zugutekommen könnte. Endlich wird messbarer, wie groß der Einfluss, aber auch das Interesse für digitale Brettspiele ist. Endlich zeigt sich, wie groß die weltumspannende Community – in der längst nicht alles freundlich und kollegial zugeht – wirklich ist: Wo in Essen rund 200.000 Fans ihre Lieblingsspiele gemeinsam feiern, können das im Internet nun Millionen Spieler gemeinsam tun. Einmal installiert, kann sich die Plattform der SPIEL.digital von Jahr zu Jahr weiter festsetzen in der Szene, das neue „Tool“ zum Skalieren nutzen, vielleicht auch dazu dienen, mittelfristig das Selbstverständnis der Internationalen Spieltage als Messe für Fans „analoger Spiele“ zu verändern.
Die SPIEL als ein jährlich eng umgrenztes Vor-Ort-Erlebnis wird dann zu einem Synonym für Welten, die längst verschmelzen: Analog und digital, Brettspieler und Videospieler. Die Chance ist da, man muss sie nur ergreifen.
In der Entwicklung von Brettspielen ist es längst Standard, auch auf Maßnahmen zurück zu greifen, die bislang der Games-Branche zugeordnet war. Längst erzählen Apps Geschichten hinter Brettspielen, erklären Regeln, zeichnen Spielerfolge auf oder helfen Vielspielern, den Überblick über ihre Sammlung zu behalten. Nicht alle Konzepte und Ideen gehen dabei auf, einige gehen unter, andere bieten der Spielerschaft nicht, was die Macher des Spiels im Sinn hatten. Schon lange ist auf der SPIEL vor Ort in Essen das digitale Leben erwacht: Immer häufiger gab es Live-Streams und Videos, nicht mehr von Hobbyisten auf der Kompaktkamera gedreht, sondern von den Verlagen selbst, die die Zeichen der Zeit erkannt und in Technik investiert haben; neue Podcast bereicherten die Szene, über Facebook, Twitter und Instagram wurde „live“ in Echtzeit von den Messeneuheiten berichtet. Sogar Konsolen standen hier und da an einigen Ständen. Was dort spielbar war? Brettspiele natürlich, nur digital adaptiert.
Dass Brett- und Videospiele strikt voneinander getrennte Produkte wären, das ist schon lange nicht mehr die Realität, der einige Traditionalisten nachtrauern. Es gibt auch viele Spielerinnen und Spieler, die zufrieden sind mit dem Ist-Zustand. Brettspiele gehören auf den Tisch, heißt es dann. Nachvollziehbar. Es liegt in dem Verständnis von Gesellschaftsspielen, Menschen an einem Ort in der realen Welt zusammenzuführen, um gemeinsam zu spielen. Das ist einer am Ende jedoch nur einer der Wege, wie es funktionieren kann. Videospiele vermögen inzwischen zu tun, was bislang nur Spielen in der Realwelt vorbehalten war: Fans an einem Ort vereinen – wenn auch nur an einem Ort aus Bits und Bytes. Dank Webcam und Kommunikation in Echtzeit können Menschen heute gemeinsam spielen ohne sich zu treffen. Möglich ist das, wenn auch nicht von jedem favorisiert. Weil die Welt technologisch nur ein Vorwärts kennt, muss man sich damit arrangieren und diese Möglichkeiten als Ergänzung sehen und nicht als Ersatz. So wie die SPIEL.digital das Angebot der Internationalen Spieltage sinnvoll ergänzen kann. Man muss die Chance nur ergreifen.
Paradox ist die Vorstellung schon. Man spielt an Tischen, die eigentlich keine sind; mit Spielern, die eigentlich gar nicht da sind, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. „Alles neu“ ist dabei allerdings nicht das ausgerufene Motto für die SPIEL.digital. Vieles, das Fans von der Vor-Ort-Messe kennen, kehrt zurück: „Erklärbären“, Spieltische, Gewinnspiele, Rabatte beim Shopping, Autorenstunden, Wettbewerbe, Neuheiten sowieso. Dass das Format der SPIEL deshalb ein Erfolg wird, nur weil es da ist, diesen fatalen Denkfehler sollte man nicht begehen. Ja, Brettspieler können leidenschaftliche Fans sein, aber es ist die breite Masse an Spielertypen, an Familien, an neugierig gewordenen Nicht-Spielern, die aus einer kleinen Spielemesse ein Massenphänomen machen. Nur weil das Internet da ist, wird ein Web-Projekt nicht zum Erfolg.
Man muss seine Tools clever einsetzen, es wird schwierig genug. Ein gutes Beispiel dafür ist die zurückliegende Gamescom, die ebenfalls aufgrund der Corona-Krise rein digitale stattgefunden hat. Das erdachte Format war nicht grundsätzlich schlecht, einige Angebote hatten ihren Reiz – dennoch ist Nachahmung nicht zu empfehlen. Auch die Macher der Gamescom mussten lernen, dass digitale Grundprodukte sich selbst in der digitalen Welt nicht wie an der Schnur gezogen präsentieren lassen – und zwar im Rahmen eines unterhaltsamen Konzept, dem man als Nutzer gern auch über Stunden folgt. Wie schwierig muss es dann erst sein, ausgerechnet um Gesellschaftsspiele eine digitale Messen zu stricken, die Spieler nicht nur zu einem kurze Blick verleitet?
Während dieses gigantischen Lernprozesses auf die Organisatoren zu schimpfen, damit machte man es sich zu leicht. Bei all der berechtigten Kritik, die es gibt: Es liegt in der Natur der Sache, dass es Faktoren gibt, mit denen Veranstalter anecken, wenn sie durch dichten Nebel steuern. Die Fahrt ist eine mit ungewissem Ausgang. Und ohnehin liegt es am Ende nicht ausschließlich am Veranstalter, die SPIEL.digital zu einem Erfolg zu machen. Der Friedhelm Merz Verlag gibt einen Rahmen vor, der funktioniert oder nicht – es liegt an den Nutzern, dem Gebotenen einen echten Mehrwert zu verleihen, nicht zuletzt durch den Mut zur Interaktion. Wer die SPIEL.digital als abgeschlossene Alternative zu Youtube und Co betrachtet, der wird enttäuscht werden, das ist sicher. Es gilt, das Format soweit wie möglich in die eigene Hand zu nehmen und einfach zu nutzen. Und wenn Fans mit Abneigungen es nicht für sich selbst tun, dann vielleicht für jene in der Branche, die es aufgrund der Corona-Krise schon schwer genug haben. In diesem Sinne: Komm, spiel mit!