Auf den Internationalen Spieltagen in Essen haben Besucher jedes Jahr erneut die Gelegenheit mit Spielern, Autoren und Verlagsvertretern aus anderen Ländern in kontakt zu treten. Manchmal bringt ein Gespräch dann völlig Unerwartetes hervor.
Andere Länder, andere Sitten – und andere Gesellschaftsspiele sowieso. Auch wenn es Brett- und Kartenspiele gibt, die sich in nahezu jedem Kulturkreis gut verkaufen lassen, gibt es in jedem Land besondere gesellschaftliche Bedingungen, die die Spielebranche spürbar beeinflussen. So wie in Russland, wo Brett- oder Kartenspiele zwar einen Markt haben, jedoch noch lange nicht so populär sind wie in Europa, Asien oder den Vereinigten Staaten. In Russland werden an Gesellschaftsspiele besondere Anforderungen gestellt – im Erwachsenenbereich, vor allem aber bei Brettspielen für Kinder.
Ein Gespräch mit Sergei Abdulmanov über die russische Spielkultur förderte Überraschendes zu Tage: in Russland müssen Brett- und Kartenspiele einem Zweck dienen. Spaß allein reicht nicht aus.
Die Völlig andere Spielkultur in Russland
Das russische Kinderspiel Kids go wild bildete den Einstieg in das Gespräch. Schon nach zwei Spielzügen wurde deutlich, dass der Grad an Interaktion für ein Brettspiel enorm – und für uns Erwachsene kaum zu bewältigen – ist. Das Spielkprinzip ist simpel und bekannt: Würfeln, Figur bewegen, Karte ziehen, Aktion durchführen.
Der Kartenaufdruck forderte von uns, einen Kopfstand zu vollführen, mit Hilfe zwar, aber auch das lehnten wir dankend ab. Die Frage danach, weshalb grade derart anstrengende Aktionen bei russischen Kindern beliebt zu sein scheinen, bliebt zurück. Glücklicherweise war unser Gesprächspartner Sergei Abdulmanov kein eingekaufter Standbetreuer, sondern waschechter Russe – und zugleich Chief Marketing Officer (CMO) von Mosigra. Mosigra ist einer der größten Betreiber von Brettspielläden in Russland, mit Shops von Moskau bis Juschno-Sachalinsk.
Weshalb die Aktionen hinter den Karten von Kids go wild aus der Sicht eines Erwachsenen so übermotiviert designt wirkten, wurde schnell deutlich: dieses Brettspiel wurde von Kindern für Kinder entwickelt. Kinder folgen bekanntlich ihrer eigenen Logik, die mit der eines Erwachsenen zunächst nur wenig Überschneidungspunkte hat. Für Kinder sei es ein besonderes Erlebnis dieses Brettspiel gemeinsam mit ihren Eltern zu spielen, sagt Abdumanov. „Kids go wild wird oft auf Kindergeburtstagen oder innerhalb der Familie gespielt“, fügt er an.
Wie ungewöhnlich die Idee hinter Kids go wild ist – und wie ungewöhnlich die Ideen sind, die Kinder selbst in die Entwicklung von Spielen einbringen können – zeigen die einzelnen Aktionskarten deutlich: oft werden mehrschrittige Spielhandlungen von den Teilnehmer gefordert, die nicht an jedem Ort problemlos durchführbar sind. Dazu ein Beispiel: eine Karte fordert, sich einen Topf oder eine Pfanne auf den Kopf zu setzen. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass man Kids go wild vornehmlich dort spielt, wo auch Haushaltsgegenstände verfügbar sind. Zu Hause. Am besten im eigenen. Noch besser mit der Familie.
Spiele müssen lehrreich sein
Brett- und Kartenspiele, die Kinder einfach nur unterhalten, werden in Russland seltener gekauft als reine „Fun-Spiele“. Brettspiele müssen in erster Linie lehrreich sein – und dann dürfen sie auch Spaß machen.
In Russland wird der kindlichen Entwicklung einer großer Wert beigemessen. Die eigenen Kinder zu fördern, ihnen bestmögliche Voraussetzungen zu bieten, um eine erfolgreiche Karriere zu beginnen, ist für russische Eltern wesentlich.
Wo hierzulande Arzt, Polizist oder Tierpfleger als Traumberufe von Kindern gelten, sind es in Russland Berufe in der Wissenschaft, der Informationstechnologie und – man mag es kaum glauben – als Mafiapate oder Anführer einer Gang.
Einer Verbrecherorganisation anzugehören genoss in Russland unter Kindern vor allem in den 1990ern einen zweifelhaft guten Ruf.
Der zukünftige Werdegang ihrer Kinder beschäftigt Eltern im von Wirtschaftskrisen gebeutelten Russland besonders. Dass Spaß allein nicht unbedingt auf dem Stundenplan russischer Kinder steht, liegt daher in dem Wunsch nach einer besseren Lebenssituation – und umgekehrt Existenzangst – begründet. Nachvollziehbar, aber für unser hiesiges Verständnis von einer Spielkultur dennoch fremd. „Spieler mögen keine Spiele ohne lehrreiche Inhalte“, erklärt Sergei Abdulmanov.
Derzeit erholt sich Russland langsam von vergangenen Krisen und das merkt man auch der Spielwarenbranche an. Der Markt ist lebendig, auch wenn die reinen Verkaufszahlen von Brett- und Kartenspielen eher stagnieren.
Brettspiele gelten mittlerweile in Russland als gern gekaufte Produkte zum Verschenken: sie sind meist hübsch, hinter ihnen steckt ein Sinn und sie sind nicht besonders teuer.
Vor allem der Spieleverpackung wird in Russland viel Bedeutung zugemessen. „Wenn einer Händler versucht, eine kleine Spielverpackung für 10 bis 15 Euro zu verkaufen, wird er in Russland nicht besonders erfolgreich sein“, erläutert Abdulmanov von Mosigra. Russische Kunden möchten auch unter optischen Gesichtspunkten einen Gegenwert für ihre Investition haben. Die Box muss etwas hermachen, egal ob als Geschenk gekauft oder für die eigene Nutzung. Hochpreisige Brettspiele haben in Russlands ohnehin kaum einen Markt. Noch mehr als hierzulande gilt der Verlauf von Expertenspielen als Nische. Der durchschnittliche russische Spieler mag es einfach, vergleichsweise günstig, vor allem aber Interaktion.
Unser Eindruck von einem stets geselligen, gesprächsoffenen Russen täuscht: die meisten Menschen in Russland sind eher zurückgezogen, verhalten sich in Gesellschaft passiv. Interaktive Spiele tauen dann das Eis auf uns bringen Menschen in Kontakt, egal ob innerhalb der Familie, unter Freunden oder auf der Arbeit. Der technologische Fortschritt macht auch in Russland nicht Halt: Computer, Tablets und Smartphones sind echte Zeitfresser – und verhindern mitunter soziale Situationen.
Seichte Kartenspiele, die Spielern Gesprächsstoff liefern, sind in Russland beliebt. Diese „Social Games“ sind daher in Ladenlokalen für verschiedene gesellschaftliche Anlässe erhältlich. Sogar das obligatorische Tischgespräch zwischen Kindern und Eltern wird in so mancher Familie durch Kartenspiele ein- oder gar angeleitet. Gesellschaftsspiele in Russland verfolgen stets einen tieferen Sinn. Spaß kommt dabei immer auf, aber allein aufgrund des Unterhaltungswerts würde der durchschnittliche russische Spieler wahrscheinlich kein Brett- oder Kartenspiel kaufen.
Juschno-Sachalinsk: Brettspielen im Eis
Zu kaufen gibt es Gesellschaftsspiele immerhin fast überall in Russland, sogar in Juschno-Sachalinsk. Die Stadt im Fernen Osten Russlands kennen deutsche Schüler manchmal aus dem Erdkundeunterricht. Brettspielen kommt dort eine besondere Rolle zu. Auch in Wladiwostok gibt es ein Brettspielgeschäft. Es ist oft geschlossen und meist unter Schneemassen begraben, wenn es allerdings öffnet, kaufen dort vor allem die Arbeiter der dort ansässigen Industrieunternehmen ein, um sich ihre Zeit fernab der Heimat mit Spiel und Spaß zu verdingen.
Der Transport von Produkten von Moskau nach Juschno-Sachalinsk kann bis zu drei Wochen dauern, erzählt Abdulmanov. Spontankäufe sind daher selten möglich. Ihre, für russische Verhältnisse guten Gehälter investieren Arbeiter der Öl-Industrie in Wladiwostok daher vor Ort. Auch in Spiele. Sie kaufen gern und viel auf einmal, wenn auch eher unregelmäßig. Am Ende dienen Gesellschaftsspiele auch in Russland manchmal nur dem reinen Zeitvertreib.
Informationen zu russischen Gesellschaftsspiele finden Interessierte in englischer Sprache auf der offiziellen Webseite von Mosigra.