Seit dem 26. Oktober ist das Western-Abenteuer von Rockstar Games erhältlich. Bei all den Vorschusslorbeeren, die Nachfolger des grandiosen Spiels Red Dead Redemption erhalten hat, konnten auch wir dem Ausritt in die Prärie nicht widerstehen. Red Dead Redemption 2 legte bereits Rekordwerte am ersten Verkaufswochenende hin – irgendwo muss also Qualität drin stecken. Oder ist Red Dead Redemption 2 nur einer dieser Hypes und man wird als Spieler nach wenigen Stunden auf den Boden der Realität zurückgeholt? Wie gut Red Dead Redemption 2 von Rockstar Games wirklich ist und ob sich die Anschaffung tatsächlich lohnt, verraten wir in unserem ausführlichen Spieletest.
Hart. Härter. Arthur Morgan.
Ein echter Cowboy braucht nur seinen Hut und einen Revolver, sagt man. Nicht so Arthur Morgan, Protagonist von Red Dead Redemption 2. Ein ganzes Arsenal an Waffen hat der Outlaw mit der rauen Stimme (brillant gesprochen von Roger Clark) in den Satteltaschen seines Pferds verstaut. Und ausgerechnet ein Bogen muss für die Jagd herhalten.
Das Spiel beginnt wie ein klassischer Western, während dem Spieler die grundlegenden Steuerungselemente vermittelt werden. Und dann folgt nach einigen Spielminuten jene Jagd-Szene, die den Spieler trifft wie eine Kugel, abgefeuert aus einer Winchester.
Es ist bitterkalt in den Bergen, die Vorräte sind knapp, Fleisch wäre schön. Dass ausgerechnet Arthur Morgan auf die Jagd geschickt wird, ist kein Zufall. Der Gunslinger übernimmt jede Aufgabe, die ihm übertragen wird. Gemeinsam mit einem Gefährten begibt sich der Spieler auf die Suche nach Beute. Den Bogen abfeuern muss der Spieler, die KI-Begleitung hat sich bei einem vorangegangenen Feuergefecht an der Hand verletzt.
Schnell ist ein junges Reh gefunden. Und noch eines. Der erste Pfeil ist ein Volltreffer, die Beute ist erlegt. Das zweite Reh hatte weniger Glück: ein Streifschuss hat das Tier nur verletzt. „Töte es mit deinem Messer“, hallt es aus dem Hintergrund. Arthur Morgan würde nicht zögern, der Spieler schon. Am Ende der Blutspur liegt das verletzte Tier im Schnee. Hilflos. Es schreit herzzerreißend. Die Mission ist eindeutig: Töte das Tier mit deinem Messer.
Die Jagd-Szenen in Red Dead Redemption 2 sind knallhart, vielleicht sogar unerträglich. Aber genau das passt hervorragend zu der dichten Atmosphäre dieses Western-Abenteuers, das mehr sein will als nur ein Spiel. Der Titel aus dem Hause Rockstar Games ist eine Mischung aus Spiel und Film: klasse inszeniert, mit spannend erzählten Episoden im Stil eines Tarantino-Klassikers und einer grafischen Präsentation, die fotorealistisch bis zum letzten Erdklumpen ist.
Fotorealismus bis zum letzten Erdklumpen
Red Dead Redemption 2 ist das Prequel zum Vorgänger. Und es ist gleichzeitig das bisher komplexeste Videospiel von Rockstar Games. Das merkt man dem Titel an jeder Ecke an: die Spielwelt ist gigantisch, abwechslungsreich und vollgepackt mit – mehr oder weniger – wichtigen Aufgaben.
Je nach Umgebung, die der Spieler als Arthur Morgan durchschreitet, wird die Anpassung der Kleidung gefordert. Im Wintermantel durch die Wüste? Das zehrt an den Kräften des virtuellen Alter-Ego. Sogar Frisur und Bartschnitt lassen sich anpassen, auf Wunsch stilecht mit Pomade an die Kopfhaut geklebt. Natürlich nur, wenn Arthur Morgan sich das „Styling-Gel“ vorher bei einem Händler gekauft – oder aus einer der Leichen geplündert – hat. Und man ahnt es bereits: Leichen pflastern seinen Weg.
Bereits der Ritt durch die offene Spielwelt unterhält für viele Stunden. Und als Spieler verbringt man viel Zeit auf dem Rücken seines Pferdes. Letzteres ist natürlich sterblich, das merkt man besonders dann, wenn man viel Zeit in die Beziehung zu seinem Gaul investiert hat.
Die Spielwelt von Red Dead Redemption 2 ist größer als die von Grand Theft Auto 5 (GTA V) und sie ist weitaus hübscher. Von der Kutschenspur in der feuchten Erde bis hin zu den Wolkenformationen ist das Western-Abenteuer ein grafisches Kunstwerk: atemberaubend schön und mindestens so stimmungsvoll wie ein Western von Sergio Leone (u.a. Spiel mir das Lied vom Tod). Mit nahezu jedem Objekt oder Charakter kann der Spieler in der Welt interagieren. Und jede Interaktion wirkt sich auf die Gesinnung des Spielers aus: den vorbeifahrenden Farmer grüßen oder ihn überfallen, beides ist möglich, und noch viel mehr.
Wie detailverliebt die Hundertschaft der Rockstar-Programmierer gewesen sein muss, zeigt die Tatsache, dass sich verschiedene Rahmenbedingungen direkt auf die Leistung des Charakters auswirken. Arthur Morgan muss regelmäßig Nahrung aufnehmen, um an der Pistole, dem Wurfmesser oder einem Gewehr Höchstleistungen zu vollbringen. Auch Alkohol und Tabak können jederzeit konsumiert werden, haben jedoch auch kurzfristig nachteilige Effekte – und das in einer Zeit, in der Whiskey gesoffen wurde wie heute Heilwasser.
Du weisst gar nichts, John Wayne
Wer bisher dachte, John Wayne sei eine Stilikone des Spätwestern, hat Arthur Morgan noch nicht kennengelernt. Der Hauptcharakter versprüht einen Charme wie ein rostige Bärenfalle. Und auch jeder einzelne seiner Begleiter wurde von den Entwicklern bis in die Haarspitzen durchdacht. Es gibt viele Archetypen, die man aus den Western der 60er bereits kennt: die vorlaute junge Lady, den prügelnden Säufer, einen eleganten Bandenanführer und den liebenswerten farbigen Cowboy mit indianischen Wurzeln. Rockstar Games hat kaum ein Klischee ausgelassen, um Red Dead Redemption 2 die passende Atmosphäre zu verleihen.
Dank Motion-Capture-Aufnahmen bewegen sich die Charaktere enorm geschmeidig. Körperhaltung, Bewegungsabläufe: jede wichtige Figur hat einen eigenen Stil. Untermalt wird die Westernszenerie von stimmungsvollen Musikeinlagen, die denen „echter Western“ in nichts nachstehen. So manches Mal verharrt man als Spieler regungslos im Saloon, um dem Klavierspiel zu lauschen.
Derartige Momente gibt es oft, man wartet förmlich auf Überraschungen: egal ob in Form einer handfesten Schießerei oder einer humorvollen Nebenmission. Das Tempo von Red Dead Redemption 2 ist insgesamt gemächlich. Die Hintergrundgeschichte entfaltet sich kapitelweise, episodenweise, langsam – und zehrt manchmal an der Geduld des Spielers. Rockstar Games hatte es scheinbar nicht eilig, die Spannungskurve aufzubauen – um dann alles binnen Sekunden in einer riesigen Explosion enden zu lassen. Belohnt wird das Durchhaltevermögen allerdings mit unerwarteten Story-Twists, der Weiterentwicklung eines der wohl genialsten Hauptfiguren der Videospielgeschichte und jeder Menge Western-Action.
Geschossen und geprügelt wird viel in Red Dead Redemption 2: zu Fuß, im Galopp, auf einem fahrenden Zug. Sein Schießeisen hält Arthur Morgan immer bereit und er zögert keine Sekunde, wenn es darum geht, seinen Widersachern Blei in die Rippen zu pumpen. Alles hübsch festgehalten von einer „Kill-Cam“, die die eindrucksvollsten Treffer in Zeitlupe wiederholt. Das Jahr 1899 war einfach nicht die Zeit sanfter Tötungen.
Ohnehin erinnert die gesamte Kameraführung eher an einen Film als an ein Videospiel. Mit einer Urgewalt ziehen die Kamerafahrten den Spieler mitten hinein in das Western-Abenteuer. Red Dead Redemption 2 entwickelt mit jeder weiteren Spielminute eine stärkere Anziehungskraft. Selbst repetitive Handlungen motivieren dank der gelungenen Inszenierung für eine gewisse Zeit, dennoch nutzen sich ständig wiederkehrende Aktionen ab. Auch wenn Red Dead Redemption 2 voller überraschender Momente steckt, die Abwechslung eines nur zweistündigen Spätwestern erreicht das Spiel abseits der Haupthandlung nicht. Episodenweise lernt man die Charaktere kennen – und lieben. Man baut förmlich eine Beziehung zu ihnen auf, auch weil Rockstar Games es schafft, allen Figuren Tiefe zu verleihen.
Am Ende sind es vor allem die grandiosen Zwischensequenzen, die den Spieler seiner Freiheit in einem Open-World-Spiel berauben. Die teilweise übertrieben langen Cutscenes verdammen den Spieler zur Passivität. Filmisch überzeugt das Gebotene bis in das kleinste Detail, doch Red Dead Redemption 2 will in erster Linie ein Spiel sein, kein Kinofilm. Bis zum furiosen Finale wird man als Spieler so gut unterhalten wie selten zuvor in einem Videospiel. Und wenn dann die Geschichte endet, folgt der Online-Multiplayer-Modus.
Infobox
Spielerzahl: 1 Spieler
Alter: ab 18 Jahren
Spieldauer: 60+ Stunden
Schwierigkeit: mittel
Langzeitmotivation: hoch
Publisher: Rockstar Games ►
Entwickler: Rockstar Games ►
Erscheinungsjahr: 2018
Plattformen: Xbox One, Playstation 4
Sprache: Englische Sprachausgabe, deutsche Texte
Kosten: 54,95 Euro
Fazit
Rockstar Games hat mit dem Prequel zu Red Dead Redemption die Messlatte für das spielbare Narrativ höher gelegt. Das legendäre Entwicklerstudio beweist, weshalb es sich manchmal lohnen kann, lange auf die Veröffentlichung eines Videospiels zu warten, acht Jahre um genau zu sein. Red Dead Redemption 2 ist ein gewaltiges Werk. Und es ist gewalttätig; aber das waren Western in den 60ern auch.
Trotz gigantischer Leichenberge, die Arthur Morgan im Verlauf der Kapitel anhäuft, versprüht dieser Titel eine Lebendigkeit, die man bei einem Videospiel nur selten findet. Jeder Charakter ist bis in das kleinste Details gezeichnet und lädt Spieler zur Interaktion ein. Wie man sein Leben als Outlaw gestaltet, entscheidet größtenteils der Spieler, es sei denn es muss den teilweise überlangen Zwischensequenzen beiwohnen, die technisch jedoch das Niveau eines Filmsteifens erreichen. Wer als Gesetzloser den „Good Guy“ spielen möchte, kann das tun. Wer dagegen lieber seinen Pistolenlauf zum glühen bringt, tut eben das. Red Dead Redemption 2 vermittelt oft das Gefühl von Freiheit, die allerdings durch enorm lange Ausritte hart erspielt werden will.
Rockstar Games hat dieses Spiel vollgepackt mit Details, versagt gleichzeitig jedoch bei dem Design so mancher zu eng umrissener Spielaufgabe. Erst wer unzählige Stunden in den Titel investiert hat, wird spüren, mit welchen Gleichförmigkeiten die Entwickler das Spielgeschehen strecken wollten: ewig gleiche Händlerware, furiose aber simple Gefechte, überlange Animationen für Standardaktionen. Das alles ist für sich genommen nicht schlimm, verlangt dem Spieler allerdings Geduld ab.
Alles richtig macht Rockstar Games dagegen bei der optischen und akustischen Präsentation und der historischen Ausarbeitung. Die Grafik von Red Dead Redemption 2 glänzt wie ein polierter Revolver, die Tonaufnahmen sind herausragend. Die Zeitgeschichte ist stets präsent: im Großen wie im Kleinen. Von typischen familiären Konflikten jener Epoche bis hin zu den Verbrechen an den Indianern, greift Rockstar die historischen Fakten des 19. Jahrhunderts auf – und wirft den Spieler mitten hinein in eine schmutzige Welt, deren schönste Momente für Unbehagen sorgen. Red Dead Redemption 2 überwältigt den Spieler oft – mal durch Anmut, mal durch pure Boshaftigkeit.
Spielerisch erinnert vieles and Grand Theft Auto 5. Das ist kein Makel, aber wenn sich der Ritt auf einem Pferd anfühlt wie die Fahrt mit einem Rennwagen, dann mutet das seltsam an. Aber irgendwie muss man als Spieler die riesige Spielwelt auch durchqueren können. Rockstar Games geht Kompromisse ein, wenn Spiel und Film miteinander verbunden werden sollen, wenn Inhalte spielbar sein müssen. Am Ende ist Red Dead Redemption 2 genau das Videospiel, auf das man seit acht Jahren wartet. Auch wenn man sich noch mehr Freiheit und noch viel mehr Charakterentwicklung gewünscht hätte.