Es gibt viele Brettspiele, die eine Hintergrundgeschichte erzählen wollen. Nur wenige davon schaffen das allerdings tatsächlich. Auf den Internationalen Spieltagen 2018 in Essen boten viele Verlage Gesellschaftsspiele an, die Spielern mit dichten Hintergrundgeschichten eine neue Art des Brettspielens näherbringen sollten.
Mit mutigen Ideen sollen sich Brettspiele mit Storytelling, auch „Serious Games“ genannt, nachhaltig in die Gedächtnisse der Spieler brennen – ohne dabei auf spielerische Qualitäten zu verzichten. Das gelingt oft und sogar überraschend gut, wie man anhand der nachfolgenden Brettspiel-Trends erkennen kann.
Mutig, berührend, erschreckend: Holding On von Asmodee
Ausgerechnet eine Palliativstation als zentralen Handlungsort für ein Brettspiel zu nutzen, erscheint makaber. Das Storytelling-Brettspiel Holding On: Das bewegte Leben des Billy Kerr von Asmodee macht sich ein erschreckend realistisches Szenario zunutze, um Spielern eine nachhaltige Erinnerung zu bieten.
Im Mittelpunkt der berührenden Geschichte steht Billy Kerr. Er ist schwer herzkrank, leidet mitunter Schmerzen und hat nur noch wenige Tage zu leben. Es ist die Aufgabe der Spieler, die Lebensgeschichte von Billy Kerr zu erfahren und dabei die Balance zwischen Schmerzbehandlung und Menschlichkeit zu finden. Der Gesundheitszustand des Protagonisten ist eines der zentralen Spielelemente: immer wieder muss das medizinische Personal darüber entscheiden, ob die Gabe von Medikamenten Kerrs Schmerzen lindern sollen oder ob man sich lieber Auszüge aus dem bewegten Leben des Patienten anhören möchte. Beides zugleich geht nicht, denn die Medikamente benebeln seine Sinne. Verzichtet man hingegen auf eine medikamentöse Behandlung, um seine Lebensgeschichte zu erfahren, verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand – bis hin zum Tod, der ohnehin unausweichlich ist.
Ein derartiges Grundthema in einem Brettspiel vorzufinden macht betroffen. Das liegt an der Nähe zur Realität. Während 1 bis 4 Spieler um das Leben des Billy Kerr – oder seine Erinnerungen – kämpfen, passiert in den Krankenhäusern der realen Welt genau das. Täglich. Erbarmungslos. Mit unbefriedigendem Ausgang, der Pflegepersonal und Ärzte vor körperliche und emotionale Herausforderungen stellt.
Und doch scheint es ungeheuer mutig zu sein, sich des Themas spielerisch anzunehmen. Auf diese Weise kann jeder lernen, wie wertvoll Menschlichkeit im Angesicht des Todes ist – und wie belastend der Arbeitsalltag für Angestellte in Krankenhäusern auf der ganzen Welt aussehen kann. Vielleicht ist Holding On: Das bewegte Leben des Billy Kerr von Asmodee unter diesem Gesichtspunkt auch als Paradebeispiel für die schwierige Gratwanderung zwischen Ethik und Recht zu verstehen, die mit derartigen Situationen einhergeht. Die Angst vor einem Sterben unter Schmerzen ist weitverbreitet. Dass ein Brettspiel diese gesellschaftliche Stimmungslage einfangen kann, ist erschreckend und verblüffend zugleich.
Die größte Stärke dieses Spiels ist, dass es eigentlich gar kein Spiel ist. Jedenfalls kein klassisches. Statt beständig Punktewerte zu optimieren, werden bei Holding On: Das bewegte Leben des Billy Kerr regelmäßig wichtige Entscheidungen getroffen, die den Fortlauf der Story direkt beeinflussen. Wer jeden Schlüsselmoment aus dem Leben des Billy Kerr erfahren möchte, muss bereit sein, Verlust und Leid zu ertragen – spielerisch zwar, aber immer vor dem Hintergrund tatsächlicher, alltäglicher Geschehnisse. Das macht auf eine besondere Art betroffen und man ist als Spieler dankbar dafür, derartige Entscheidungen nur am Spieltisch treffen zu müssen.
Holding On: Das bewegte Leben des Billy Kerr von Asmodee erscheint im vierten Quartal 2018.
Brettspiele mit Storytelling: Emotionen statt Punkte
Es scheint, als hätte Asmodee die Idee des Storytellings in Brettspielen für sich entdeckt. Dass neben dem erwähnten Holding On: Das bewegte Leben des Billy Kerr auch das Brettspiel Discover: Zu unentdeckten Landenbei dem Verlag mit Sitz in Essen erscheint, dürfte kaum ein Zufall sein.
Discover: Zu unentdeckten Landen ist eine Art Experiment. Dieses Brettspiel ist ein sogenanntes Unique Game, ein Titel also, der mit jeder Verkaufsbox einzigartige Inhalte aufweist. Das funktioniert durch die Zusammenstellung des Spielmaterials aus einem großen Pool an verfügbaren Komponenten. Was in jeder Version gleich ist, sind allerdings die Regeln.
Ansonsten ist Discover: Zu unentdeckten Landen eine eher typische Survival-Story. Spieler kämpfen alleine oder mit bis zu drei weiteren Mitstreitern in der Wildnis ums Überleben: das kann beispielsweise in einer Wüste sein, entlang schneebedeckter Gipfel oder auf einer einsamen Insel.
Im Verlauf einer Partie entspinnt sich schrittweise die Handlung, die durch das Erfüllen von Quest-Zielen vorangetrieben wird. Je länger die Spieler ihr Überleben sichern können, desto wahrscheinlicher wird es, ein Szenario erfolgreich abzuschließen.
Weil auch die Zusammenstellung der Gruppe der Überlebenden in jedem Exemplar von Discover: Zu unentdeckten Landen zufällig zusammengestellt wird, fallen auch die möglichen Spielstrategien stets unterschiedlich aus. Jeder Charakter verfügt über individuelle Boni, die das Überleben in den Naturregionen beeinflussen.
Discover: Zu unentdeckten Landen erscheint bei Asmodee im vierten Quartal 2018.
Tatort Spieltisch: Chronicles of Crime und Co.
Krimi-Brettspiele sind nicht neu. Krimi-Brettspiele, die Brettspiel, App und sogar Virtual Reality mit einer dichten Hintergrundgeschichte kombinieren sind dagegen ein echtes Novum. Chronicles of Crime von Corax Games setzt auf innovatives, kooperatives Spielerlebnis, bei dem Spieler Verbrechen aufklären müssen. Rückmeldung zu den Ermittlungsansätzen gibt die kostenlose App.
Chronicles of Crime ist eher ein interaktiver Kriminalfilm als ein klassisches Gesellschaftsspiel, doch es sorgt mit der Grundidee für frischen Wind im doch etwas angestaubten Crime-Segment. Insgesamt sechs Szenarien, davon eines als Tutorial, stehen für 1 bis 4 Spieler zur Verfügung. Spielerisch steht die traditionelle Ermittlungsarbeit im Mittelpunkt: Beweise sichern, Zeugen suchen, Verdächtige festsetzen. All das funktioniert mit dem Smartphone in virtuellen 360°-Umgebungen. Sechs bis acht Stunden lang. Die Präsentation ist jugendgerecht (Alter 14+), teilweise hübsch überzeichnet.
Ein ähnliches Konzept kommt aus dem Hause Pegasus Spiele. Detective: A modern Crime Board Game spielt sich wie ein vielstündiger Krimi. In den Handlungssträngen geht es um nicht wenigen als die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit. Als Angehöriger der Sonderermittlungseinheit „Antares National Investigation Agency“ müssen insgesamt fünf zusammenhängende Kriminalfälle aufgeklärt werden. Auch bei diesem Brettspiel müssen Beweise gesichert und Zeugen befragt werden. Der Clou: die Ergebnisse werden in einer Online-Datenbank eingetragen, die eigens für das Spiel angelegt worden ist.
Wie im realen Leben sitzt die Zeit den ermittelnden Spielern im Nacken. Während am heimischen Spieltisch an der Lösung des Falles gebastelt wird, können sich die Rahmenbedingungen bereits verändert haben. Das ist spannend, lädt zum Nachdenken ein und weist einen Grad der Interaktion auf, der für Brettspiele bisher unerreicht gewesen ist.