Es gibt so manches Videospiel, das Gamer durch atemberaubende Zwischensequenzen begeistert. Für Fans sind gut gemachte Filmschnipsel die perfekte Motivation zum Weiterspielen. Blizzard Entertainment galt lange Zeit als Produzent von Zwischensequenzen erster Güte. Obwohl viele Videospiele heutzutage auf starke filmische Sequenzen setzen und einige herausragende Titel durch stimmige, dichte Hintergrundgeschichten glänzen, war es eher unwahrscheinlich, dass ein Videospiel sich aufgrund seiner visuell-narrativen Qualitäten für einen Academy Award qualifizieren könnte. Diesen Meilenstein der Videospielgeschichte hat nun ein Titel erreicht, der eben mehr sein will als bloß ein Videospiel: Everything.
Ein Videospiel mit Ambitionen: Everything
Abseits der Verkaufszahlen gilt für Entwicklerstudios eine eher simple Erfolgsformel: Ein gutes Videospiel unterhält Spieler für viele Stunden. Ein herausragender Titel hinterlässt zudem einen bleibendem Eindruck. Das Machwerk von David OReilly hingegen will mehr, man könnte sogar sagen alles. Everything ist kein gewöhnliches Videospiel aus dem Indie-Segment, sondern eine interaktive philosophische Lehrstunde im virtuellen Raum. Das Klassenzimmer ist die Welt an sich – mit all ihren Facetten. In Everything wird keine in sich geschlossene Geschichte erzählt. Es geht um grundlegende Themen: Existenz, Leben und Tod, Poesie.
David OReilly hat sich für Everything von dem englischen Religionsphilosophen Alan Watts inspirieren lassen. Er ist es auch, der den Audioschnipseln eine Stimme verleiht. Alan Watts philosophische Kernthemen sind die des Zen, Buddhismus und Daoismus, aber auch des Mystizismus oder der Thaumaturgie. Nach seiner Ansicht ist das „Leben eine wunderbare Spielwiese“. Und so vermag es kaum zu überraschen, dass derart existenzielle Grundlagen sich im Gameplay von Everything widerspiegeln. Mit fortschreitendem Spielverlauf wird die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Welt für den Spieler stetig größer. Auf erste Entdeckungen folgt nicht weniger als die Ausgestaltung eines Universums ganz nach den Wünschen und Vorstellungen des Spielers selbst.
Das klingt nach einem ambitionierten Projekt und fast unendlichen spielerischen Freiheiten. Tatsächlich lässt das Gameplay den durchschnittlichen Videospieler eher ratlos zurück. Letztendlich ist die Interaktion geringer als man anfänglich vermuten könnte. Und auch die minimalistischen Spielhandlungen erzeugen auf Spielerseite ein merkwürdiges Gefühl. Die Frage, ob Everything überhaupt noch ein Videospiel ist oder eher ein philosophisches Kunstwerk mit virtuellen Wurzeln, ist berechtigt. Trotz der Kritiken auf spielerischer Ebene, sind vor allem der intellektuelle Anspruch und die zahlreichen Denkanstöße in existenziellen Fragen lobenswert.
And the Oscar goes to… Everything?
Trotz der, auf den ersten Blick übersehbaren, Qualitäten von Everything, hat es das Videospiel nicht gänzlich ohne einen Trick auf die Qualifiziertenliste für die Oscar-Verleihung geschafft. Verantwortlich für den Listeneintrag ist die Auszeichnung als bester Animationsfilm auf dem 14. Vienna Short Festival 2017 (VIS 2017). Dort hatte die Jury den Gameplay-Film samt seiner musikalischen Unterhaltung für preisverdächtig befunden. Erst durch diese Prämierung landete Everything von David OReilly auf der sogenannten Oscar®-Longlist.
Von dieser Qualifikationsliste wählt eine Jury dann die Nominierten für die Academy Awards. Bis tatsächlich ein Videospiel einen Oscar gewinnen wird, dürften noch viele Filmminuten ins Land gehen. Dennoch bleibt der Erfolg, dass sich ein Videospiel erstmals, wenn auch indirekt, für einen Oscar qualifizieren konnte. Etwas ähnliches gelang übrigens vor rund sechs Jahren dem Titelsong zu Civilization 4: Baba Yetu von Christopher Tin errang im Jahr 2011 einen Grammy Award – allerdings nicht für den Song direkt, sondern im Rahmen einer Neuveröffentlichung von Tins Album „Calling All Dawns“. Weil die Chance nun da ist, bleibt es spannend: Wird Everything am Ende für einen Oscar in der Kategorie „Bester Kurzfilm“ nominiert?
David OReilly: Filmemacher, Influencer, Visionär
In der Begründung der Preisverleihung auf dem 14. Vienna Shorts Festivals hieß es:
„Mit didaktischen Elementen inklusiver starker politischer Botschaft ermutigt uns der Film, das eigene Ego hinten anzustellen und eine neue Sicht auf die Welt zu erhalten. Die Auszeichnung geht an ‚Everything‘ von David OReilly.“
Dass ausgerechnet der Ire David OReilly die Auszeichnung für sein filmisches Machwerk ergattern konnte ist kein Zufall.
OReilly ist ein erfahrener Filmemacher und Künstler aus Los Angeles. Er weiß, worauf es ankommt, um ein Publikum (und eine Jury) zu überzeugen. Mit seinen Werken hat es bereits mehrere Auszeichnungen gewonnen. Sein zehnminütiger animierter Kurzfilm Please say Something wurde im Jahr 2009 mit mehreren Awards prämiert, darunter findet sich auch der Goldene Bär der Berliner Filmfestspiele 2009.
OReilly, der unter anderem Vorträge an den renommierten Universitäten Harvard und Yale hielt, ist damit kein echter Überraschungssieger, sondern ein Künstler, der mit einer kreativen Idee und einer gelungenen Inszenierung glänzen konnte.
Einem Peter Molyneux für seine (zumindest thematisch ähnlichen) Spiele um Gotteskraft und Welterschaffung eine Oscar-Qualifikation zu verschaffen wäre selbst heutzutage kaum denkbar. Und so ist am Ende weniger das Videospiel Everything oscarreif als die Präsentation des 11-minütigen Gameplay-Trailers inklusive hervorragender musikalischer Untermalung. Echtes Gameplay von Everything können Interessierte im nachfolgenden Video anschauen. Der Titel ist erhältlich für Playstation 4* sowie PC und MAC und kostet rund 15 Euro.