Es hat sich über Jahrzehnte eine Tradition entwickelt, wenn es um Electronic Arts FIFA-Fußball-Videospielreihe geht: Kader-Update oder besseres Spiel? Kaufen oder nicht? Selbst eingefleischten Fans fiel es immer schwerer, diese Fragen für sich zu beantworten. Dieses Jahr ändert sich das: FIFA 22 ist tatsächlich eine spürbare Weiterentwicklung der Serie – und könnte zugleich einen Umbruch der Reihe, ja: sogar der ganzen Marke, einläuten. FIFA 22 ist ohne Zweifel das bessere Spiel – wenn man es auf Playstation 5 oder Xbox Series X|S spielt zumindest.
Selbst Fans der FIFA-Reihe standen in den vergangenen Jahren immer wieder vor der schwierigen Entscheidung, ob denn rund 60 Euro angemessen sind für das Gebotene. Die Entwickler bei EA Vancouver und EA Romania haben für dieses Jahr offenbar ein Einsehen gehabt: Es scheint, als habe man den Spielern tatsächlich etwas bieten wollen, ihnen eine Fußballsimulation offenbaren wollen, die tatsächlich als Weiterentwicklung zu verstehen ist. Gleichzeitig scheint es aber auch so zu sein, als habe man PC-Spieler dabei völlig ignorieren wollen. Ausgerechnet die theoretisch leistungsstärkste Plattform muss auf das technisch eindrucksvollste und neue Feature verzichten: die Hypermotion-Technologie. Verfügbar ist die nur für Xbox Series X|S, Playstation 5 und Google Stadia. Gut für jene, die bereits eine der Next-Gen-Konsolen besitzen, oder sich auf das Experiment „Google Stadia“ eingelassen haben. Schlecht allerdings für all jene, die Next-Gen-Fußball auf ihrem hochgerüsteten Gaming-PC haben spielen wollen – kann man zwar machen, ist im Falle von FIFA 22 aber nur halb so spaßig.
Hypermotion: „Smooth, just like a silk“
Shaggy trifft mit einer Songtextzeile, was die Hypermotion-Technologie für die Animationen in FIFA 22 bedeutet: „Smooth, just like a silk“. Tausende fußballerische Animationsfetzen haben die Entwickler für den neuen Ableger der FIFA-Reihe zusammengebastelt und über die virtuellen Kicker gelegt, um ihnen mehr Realismus einzuhauchen. „Hypermotion“ ist die größte Neuerung der Reihe und gleichzeitig ihr größter Fortschritt der letzten Jahre. Die Technologie wirkt sich spürbar aus, verändert vieles. Das Gameplay fühlt sich deutlich flüssiger an – die Zeiten der stumpfen Holzhacker-Bewegungen sind vorbei auf dem grünen Rasen. 22 Fußballer hatten sich dafür bei einem realen Spiel filmen lassen – gekleidet in Spezialanzüge, mit denen die Entwickler feinste Bewegungen erfassen konnten.
Die eigentlich kleine, aber durchaus innovative Maßnahme – Motion Capturing gab es immerhin auch vorher schon – hat große Auswirkungen auf das Geschehen: die Mannschaften agieren tatsächlich als Team, bewegen sich im Verbund realistischer. Und auch die Einzelakteure wirken dank Hypermotion menschlicher: Sie gestikulieren auf dem Feld, gehen clever Wege in den freien Raum, verhalten sich so, wie motivierte Fußballmillionäre sich verhalten sollten. Die neue Animationstechnologie bessert dabei direkt auf zwei der wichtigsten Ebenen von FIFA 22 nach – grafisch einerseits und beim Gameplay andererseits. Die Zweikämpfe sind dynamischer, gleichzeitig auch wichtiger. Einfach an den Opponenten vorbeisprinten funktioniert zwar, FIFA bleibt ein schnelles Spiel, aber es kommt nicht mehr nur aufs Tempo an. Vielmehr rückt eine Kombination aus Timing und Dosis in den Vordergrund. Man läuft sich frei, empfängt den Pass und rennt im richtigen Moment los, um den Gegner hinter sich zu lassen. Den Weg zum Tor ist frei.
Dann gibt es nur noch einen Spieler, der den Treffer vereiteln könnte – und ausgerechnet der hat ordentlich dazu gelernt: die Torhüter bei FIFA 22 sind verlässliche Schlussmänner, sie halten viel. Nur bei Schüssen aus der Distanz versagen die virtuellen Keeper des Öfteren. Die Kluft zwischen unüberwindbarer Wand und Fliegenfänger ist groß. Aus der Mitteldistanz und bei der Strafraumbeherrschung scheinen die Torhüter fast übermächtig zu sein; haut man ihnen aber scheinbar harmlose Weitschüsse entgegen, versagt die KI mitunter völlig. Insgesamt fallen bei FIFA 22 dennoch weitaus weniger Tore als bei den Vorgängern. Das führt letztendlich zu realistischeren Spielergebnissen. Und das wiederum führt dazu, dass der neue Fußballableger an Authentizität gewinnt. Ein Fall für Patches sind die Keeper dennoch, die Entwickler werden mit Sicherheit nachjustieren, vermutlich mehrfach.
Tika-Taka!
Feintuning verlangt es zudem bei den Finesse-Schüssen kurz vor dem Sechzehner. Auch die sind auf ihre Art übermächtig beziehungsweise deutlich zu effektiv. Die angeschnittenen Kunstschüsse befördern den Ball zu oft ins Netz. Das wiederum ist dann nicht ganz so realistisch. Wenn Spieler mit mittelmäßigen Fußballerkrücken schnittige Tore des Monats à la Messi und Co am Fließband in den Kasten schlenzen, dann leidet der Realismus. Auch hier gilt: Das wird voraussichtlich entschärft, vermutlich ebenfalls mehrfach. Was der Mittelmaß-Kicker mit seinen Distanzschüssen an Magie zeigen kann, fehlt ihm übrigens im Mittelfeld: Die Dribbling sind zäh, nur schnelle Spieler profitieren. Und Ballverluste kündigen sich an, wenn man die Pille zu lange hält. Tiki-Taka-Fußball ist nicht selten der Erfolgsbringer. Kurze und kluge Pässe und ein hoher Anteil an Ballbesitz sind eine vielversprechende Strategie bei FIFA 22. Da ist es dann wie im echten Leben: Es kann furchtbar effizient sein, den Ball hin und her zu schieben, um sich ans gegnerische Tor heranzupirschen oder auf den tödlichen Pass in den freien Raum zu warten, aber es kann auch furchtbar langatmig sein.
Gleichzeitig zeigt das eine Weiterentwicklung des fußballerischen Simulationsfaktors: Ein nur durchrennen oder mit hübschen Trick ganze Abwehrreihen ausspielen, das funktioniert nicht mehr so einfach. Erst recht nicht, weil man nachgebessert hat, was die Ausdauer der Kicker angeht. Die Partie fühlt sich nun nicht mehr automatisch ab Minute 70 an, wie ein Finalspiel in der Verlängerung. Die Dynamik lässt sich nach hinten heraus aufrechterhalten, was gut und ein Zugewinn im Vergleich zu FIFA 21 ist.
Und noch etwas ist offensichtlich besser: die Atmosphäre auf und abseits des Platzes. Auffällig ist das vor allem in Verbindung mit dem Karrieremodus. Neue Zwischensequenzen, coole Torjubel, Analysen und Statistiken am Ende der Partie – all die Bereich habe Aufmerksamkeit von den Entwicklern erhalten. Die Kommentatoren rattern treffsicher ihre Eindrücke herunter, von den Interviewpartnern kann man da hingegen nicht sagen: das wirkt weiterhin belanglos und repetitiv. Verbesserungsbedarf gibt es also auch bei FIFA 22 noch. Dennoch ist insbesondere der Karrieremodus ein echter Sprung gemessen an dem Gebotenen in den Vorgängern. Mit der Möglichkeit, einen eigenen Verein zu erstellen, gewinnt der Modus zudem an Bedeutung. Auch wenn die verfügbaren Optionen eher dürftig sind. Der eigene Verein ist am Ende also eine Art „fast eigener Verein“, denn auf etwas an Wahlfreiheit müssen Fans dann doch verzichten. Das Potenzial dieser Idee spielen die Entwickler leider nicht aus: Immerhin hätten viele Fußballfans die Möglichkeit erhalten, ihren Dorfverein auf den Bildschirm zu bringen. Stattdessen ist der eigene Verein eine merkwürdige Ergänzung zu den ohnehin schon umfangreichen Teamselektionen.
Die Spielerkarriere punktet mehr. Letztendlich ist das Fortschrittssystem bei FIFA 22 nämlich eine weitere große und großartige Verbesserung der Reihe. Von einem Nobody spielt man sich an die Spitze – klar, das war immer schon so. Das Drumherum ist aber deutlich besser. Man feilt an der Beziehung zum Manager, vermeidet dabei bestenfalls negative Konsequenzen; man arbeitet an den Zielen und sammelt Erfahrung im Training. Fähigkeitspunkte lassen den Spieler dann sportlich besser werden, regelmäßig kann man Perks freischalten und drei davon gleichzeitig ausrüsten. Bei der Spielerkarriere hat man nun das Gefühl, einen Spieler tatsächlich nach seinem persönlichen Geschmack anpassen zu können.
Was man sonst so machen kann bei FIFA 22, ist eigentlich bekannt: unter anderem die monetäre Quetschzitrone „Ultimate Team“ spielen – das man mal wieder Spaß als Online-Modus – oder den arcadelastigen Modus Volta nutzen. Der ist immer noch toll und sollte zukünftig bleiben.
Infobox
Spielerzahl: Singleplayer, Multiplayer
Alter: ab 12 Jahren
Schwierigkeit: mittel
Langzeitmotivation: niedrig
Genre: Sportspiele
Untergenre: Fußball-Simulation
Entwickler: EA Vancouver, EA Romania
Publisher: Electronic Arts (EA Sports)
Offizielle Website: Link
Erscheinungsjahr: 2021
Plattformen (Testsystem): PC, Playstation 4, Playstation 5, Xbox One, Xbox Series X|S, Nintendo Switch (Legacy-Edition)
Sprache: deutsch
Kosten: ab 59,99 Euro
Fazit
FIFA 22 bedeutet Verbesserung auf vielen Ebenen: Optisch macht das Spiel einen Sprung, die Qualität der Animationen ist dank neuer Hypermotion-Technologie grandios, das Gameplay dadurch flüssiger. Hypermotion ist echter Fortschritt, auch wenn längst nicht alle Spielerbewegungen perfekt aussehen. Hier und da gibt es Aussetzer, mitunter unrealistische Moves. Egal: Was sich auf dem Platz abspielt, hat mehr mit Fußball zu tun, als bei der FIFA-Reihe in den letzten Jahren.
Auch herausfordernd wird es: Die Torhüter sind oft unbezwingbar, in einigen Situationen jedoch weiterhin dämlich genug, um das eine oder andere merkwürdige Eigentor zu zaubern. Insgesamt überzeugt die KI, manchmal versagt sie aber auch. Das Online-Spiel macht Spaß, mit Freunden über „Pro Club“ ebenso. Und wer alleine spielt, freut sich vor allem über die Spielerkarriere, die dank Anpassungen deutlich motivierender ist. FIFA 22 ist mehr als das sonst üblich Kader-Update, bietet gleichzeitig aber auch Anknüpfungspunkte für notwendige Verbesserungen im Detail. Insbesondere dem Karrieremodus könnten die Entwickler zukünftig noch etwas mehr Liebe angedeihen lassen, da hakt es nämlich weiterhin. Apropos Zukunft: die ist ungewiss bei „EA-Fußball“. Ob es ein FIFA 23 unter diesem Namen geben wird? Man weiß es nicht, der Lizenzstreit zwischen Electronic Arts und der „Fédération Internationale de Football Association“ könnte dafür sorgen, dass der aktuelle Teil eine Art Abschluss bildet – zumindest was die Namensgebung betrifft. Nach der jahrzehntelangen Tradition wirkt das fast unmöglich, aber bei Lizenzkosten von laut Medienberichten rund einer Milliarde US-Dollar, die EA an die FIFA überweisen soll, hat der Publisher zumindest ein gewichtiges Argument für einen Neustart.
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