Mit Watch Dogs: Legion spielt Ubisoft in einem dritten Anlauf erneut mit den Themen Digitalisierung und totale Überwachung das Duett der Apokalypse. Das Setting, das anno 2014, als die Reihe ihr Debüt feierte, schon beängstigend greifbar gewesen ist, hat angesichts des technologischen Fortschritt in den vergangenen sechs Jahren weiter an Bedrohlichkeit hinzugewonnen. Und diesmal ziehen die Watch Dogs mit einer ganzen Legion los. Im Test verraten wir, ob und wie gut Ubisoft die neue Open-World-Action gelungen ist – wie immer: spoilerfrei in Text und Bild.
Stell dir vor, jeder deiner zurückgelegten Kilometer wird aufgezeichnet. Stell dir vor, Werbung wird anhand deiner im Internet konsumierten Inhalte angezeigt. Stell dir vor, Uhren am Handgelenk messen dein Stresslevel. Stell dir vor, Bots und Verschwörungstheoretiker nutzen die sozialen Medien, um gezielt Propaganda zu betreiben. Beängstigend – im Jahr 2020 aber längst Alltag. Der französische Publisher Ubisoft zeichnet mit Watch Dogs: Legion, dem inzwischen dritten Ableger der Open-World-Reihe, ein weitaus schlimmeres Bild von der Realität in einem dystopischen London: Ein mächtiger Konzern, genauer: ein privates Militärunternehmen, kommt durch einen Staatsstreich an die Macht, um sie fort an für seine Schreckensherrschaft zu missbrauchen.
Weil das nicht mehr so klingt, als könne ein einzelner Hacktivist sich dem entgegenstemmen, übergeben findige Entwickler Fans der Reihe nun das Kommando über eine ganze Legion von „Freiheitskämpfern“, die ungleicher gar nicht sein könnten: vom Sportstar bis hin zur Aggro-Granny drängen Spieler gegen den Konzern Albion und sein Machtmonopol.
Ihre Zahl ist Legion und wächst stetig
„Legion“, bei Watch Dogs steckt dahinter ein simples wie geniales Konzept: Theoretisch lassen sich tausende Londoner für die eigene Sache rekrutieren. Das funktioniert vordergründig gut, entpuppt sich mitunter als grandiose Idee auf einem umfangreichen Open-World-Spielplatz. Und dann gibt es manchmal die Momente, in denen man merkt, dass sich dahinter auch nur eine Art Gruppierungssystem verbirgt, bei dem verschiedene Charaktere einer Handlungsfraktion zugeordnet wurden, um das auf unterschiedliche Spezialmanöver zugreifen zu können: So fordert man etwa Fahrzeuge an, schleicht umher oder wählt den direkten Weg, mit der Panzerfaust im Anschlag. Ein bisschen ist die Mär von der spielerischen Freiheit also Schall und Rauch.
Dennoch: Immer wieder gibt es bei Watch Dogs: Legion jene Situationen, in denen man merkt, wie großartig und unterhaltsam das Gameplay tatsächlich sein kein. Stets hat man die Wahl, wie man eine Aufgabe löst, ob man die Brechstange auspackt und marodierend durch die Vordertür eindringt – oder cleverer agiert, im Verborgenen, unter Einsatz technischer Spielereien. Die Grundidee ist am Ende als mehr als nur „gut gemeint“, nicht frei von Makeln, aber dennoch ein gelungener Kniff, weil es dem Spieler Entscheidungsmöglichkeiten lässt. Das ist nicht neu, bei Watch Dogs: Legion kontrolliert man allerdings nicht die eierlegende Wollmilchsau mit einem Dutzend Fähigkeiten, sondern viele spezialisierte Charaktere. Letztendlich passt die Idee auch zudem Setting: Es geht darum, sich gemeinsam gegen Unrecht zu stellen, wenn auch mit fragwürdigen Mitteln.
Die von den Entwicklern völlig überzeichnete Realität, inklusive der teils schrägen Figuren, mildert das Schreckensszenario ab – Watch Dogs: Legion wird dadurch nicht zum einem Spiel, das mit einem erhobenen Zeigefinger wedeln will, sondern zum einem Hacktivisten-Spielplatz, in dem ein eigentlich ernstes Thema sich eben nicht ganz ernst nimmt. Ein Kinderspiel ist auch der neue Ableger aus der Watch-Dogs-Reihe deshalb aber nicht. Schon die USK-Freigabe ab 18 Jahren macht deutlich: Hier sind Themen im Spiel, die sich ausschließlich an Erwachsene richten. Das war bei den beiden Vorgängern nicht anders. Und tatsächlich kracht und raucht es nicht nur bei Watch Dogs: Legion, es geht mitunter ziemlich brutal zu. Und auch der Humor ist speziell, wenn auch an vielen Stellen gelungen. Spaß bringt vor allem „Bagley“, die vorlaute britische Version von Tony Starks Computerhirn JARVIS.
Gestützt wird die verrückte Welt von mindestens ebenso verrückten Charakteren, denen man sich als Spieler bedienen kann. Die unterschiedlichen Figuren zu sammeln und deren Fähigkeiten seinem Skill-Pool hinzuzufügen, kann eine der Aufgaben sein, der Spieler sich widmen – sofern sie es möchten. Unbedingt notwendig ist das nämlich nicht, um voranzukommen. Immerhin: Potenzielle Freiheitkämpfer stoßen nur allzu bereitwillig in die Reihen der Hackerorganisation DeadSec. Wie gut die Details ineinandergreifen, wenn es darum geht, sich seine Legion zusammenzustellen, merkt man erst im Spielverlauf.
Am Anfang wirkt der Gedanke, einen Rekruten anzuheuern, dessen „besondere Fähigkeit“ darin besteht, ein Auto zu besitzen, ziemlich belanglos. Später stoßen jedoch neue Mitglieder zum Team, die sich als Experten entpuppen: Ein Fluchtwagenfahrer etwa, der nicht nur über eine besonders schnelle Karre verfügt, sondern auch Polizeidrohnen an der Verfolgung hindert. Das fühlt sich dann durchaus mächtig, vor allem aber nützlich an. Tatsächlich macht es zwischenzeitlich durchaus Spaß, sich der Rekrutierung neuer DeadSec-Mitglieder hinzugeben, denn auch optisch unterscheiden die Charaktere sich stark. Wer dann nicht nur mit irgendeiner Figur herumrennen möchte, muss Ausschau halten nach „seinem Helden“ oder „seiner Heldin“. Ob man sich um sein Team kümmert, es pflegt und vor Feinden schützt, hängt maßgeblich davon ab, wie man es zusammenstellt. Das mag längst nicht für jeden Spieler funktionieren, kann aber einen Reiz entfalten.
Lebendige Megametropole
Direkt damit verknüpft ist auch, wie viel Spaß man mit Watch Dogs: Legion haben kann. Für die einen ist diese Art des Open-World-Zeitvertreibs mit ausgeprägtem Pokemon-Faktor völlig unattraktiv, anderen macht es Freude, sich um das Management der Crew zu kümmern. Tatsächlich ist die Suche nach Rekruten eine durchaus zeitintensive Tätigkeit: Man scannt Bürgerinnen und Bürger, ermittelt so deren Fähigkeiten – entweder Face-to-Face auf der Straße oder via Überwachungskamera – und entscheidet, ob der oder die Figur ins Team passt oder zumindest Fähigkeiten hat, die einem nützen.
Cleveres Detail: Die Charaktere haben sowohl gute als auch negative Eigenschaften. So kann man einen starken Nahkämpfer finden, der allerdings völlig unbeweglich ist. Oder aber Charaktere können spielsüchtig sein, sodass einem von seinem DeadSec-Geldfluss immer ein kleiner Betrag abhanden kommt. Das Konzept hat einen weiteren Vorteil: Man umgeht Story-Dissonanzen, weil man stets auswählen kann mit welchem Charakter man welche Vorgehensweise an den Tag legt. Den amoklaufenden Pazifisten wird man bei Watch Dogs: Legion nur dann finden, wenn es das als Spieler zu lässt. Wer will, handelt mit den Figuren ihren Charaktertypen entsprechend.
Die Idee ist durchaus spannend, denn früher oder später trifft man auf seiner Reise durch London auf schräge Typen, die man unbedingt in seinem Team wissen will. Das Konzept, eine Welt mit Figuren zu füllen, die jeweils individuelle Biografien haben, ist nicht gänzlich neu, aber bei Watch Dogs: Legion zumindest bezogen auf das Gameplay neuartig ausgestaltet. Das reizt und motiviert, wenn auch nicht bis ins Unendliche.
Die Einwohner Londons gehen dabei zudem jeweils einem Tagesablauf nach, sodass sich die aus Spielen bekannt 24/7-Gleichförmingkeit selten einstellt. Natürlich lässt sich auch dieser Umstand nutzen, etwa wenn eine Wache in ihrer Freizeit dem zivilen Lebensalltag nachgeht. Immer wieder ergeben sich daraus kleinere Geschichten – und dadurch wiederum das Gefühl einer lebendigen virtuellen Großstadt. Ohnehin gilt: Was die Leveldesigner erschaffen haben, ist grandios. So schön war London in einem Videospiel bislang noch nie. Die Stadt mit ihren Wahrzeichen ist wiedererkennbar, der Trip in einem gestohlenen Wagen durch die Innenstadt macht Spaß.
Watch Dogs: Legion ist spürbar Sandbox
Verkehrte Welten bietet Watch Dogs: Legion meist, wenn es darum geht, sich bei den Missionen für die vielen Vorgehensweisen zu entscheiden. Während die Infiltration vergleichsweise einfach ist und man Gegner meist einen nach dem anderen ohne größere Probleme ausschalten kann, ist der in anderen Spielen eher simple explosive Ansatz angesichts der militärischen Macht von Albion eine Herausforderung, zumindest meistens. Wenn der Konzern dem Spieler Horden von gut ausgerüsteten Elitekämpfern auf den Hals schickt, Drohnen über den Köpfen kreisen und Geballer von allen Seiten auf die Hacker einprasselt, wünscht man sich nicht selten, man hätte sich für die Schleicherei entschieden. Das funktioniert ohnehin besser und orientiert sich näher an der spielerischen Grundidee, die die Entwickler vermutlich hatten: Man soll kreativ und aus der Ferne vorgehen, die Technologie nutzen, nach Alternativen suchen.
Dabei helfen die unzähligen Gadgets und Spielereien, auf die man zurückgreifen kann. Mit seinem Smartphone kann man Gegner ablenken, um sie dann auszuschalten; oder man hackt sich in die technologischen Apparate, um so allerlei Effekte auszulösen, Fallen scharf zu schalten oder die Umgebung zu seinen Gunsten zu nutzen. Durch die unzähligen Interaktionsmöglichkeiten fühlt sich Watch Dogs: Legion nach Sandbox an, wenn auch mit vielen wiederkehrenden Elementen – und wenn auch unter der Voraussetzung, dass man als Spieler seinen Hang zum Experimentieren ausleben möchte, denn zwingend sind die ganzen Spielereien nicht. Mit kleineren Ausnahmen vielleicht: Drohnen zum Beispiel. Die Fluggeräte sind omnipräsent in Watch Dogs: Legion, nerven streckenweise, lassen sich im Verlauf des Spiels jedoch stetig besser kontrollieren oder für eigene zwecke nutzen.
Auch Rätsel gibt es im neuen Ableger der Watch-Dogs-Reihe, allerdings meistens von der Sorte: „Vervollständige die Leitung“, nicht innovativ, oft sogar ätzend. Darauf hätte man verzichten können. Aber: Hin und wieder steht man semi-kniffligen Pipeline-Aufgaben gegenüber, die deutlich reizvoller sind, weil man mehrere Umgebungselemente nutzen muss. Das macht das Grundkonzept nicht besser, aber immerhin erträglicher. In den Bosskämpfen hätte man darauf aber erst recht verzichten sollen. Insgesamt bietet das Gameplay viele repetitive Elemente, Missionen laufen meist gleichförmig ab: Infiltriere ein Gebäude, das durch Kameras, Drohnen und Wachen gesichert ist; hacke dich in das Computersystem; entschärfe Fallen; krieche mit deiner Robo-Spinne durch einen Lüftungsschacht; hacke dich in das Computersystem; und so weiter.
Watch Dogs: Legion lebt größtenteils vom Gameplay und nicht von der Story. Eine Geschichte gibt es zwar, und sie hat auch einen roten Faden, wirklich herausragend und exakt auf das Setting ausgerichtet ist der narrative Part des Spiels aber nicht. Viel spannender sind oft die kleinen Momente, wenn Demonstranten sich zur Wehr setzen oder man Zeuge von Polizeigewalt. Das unterstützt die Atmosphäre und macht die Sandbox glaubwürdiger, echte Highlights gibt aber aber nicht – allenfalls das Finale löst sich vielleicht überraschend auf.
Bilder zu Watch Dogs: Legion
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Infobox
Spielerzahl: 1
Alter: USK 18
Schwierigkeit: einfach bis mittel
Langzeitmotivation: mittel
Genre: Action-Spiel
Untergenre: Open-World-Stealth-Spiel
Publisher: Ubisoft
Offizielle Website: Link
Erscheinungsjahr: 2020
Plattformen: Xbox One, Playstation 4, Xbox Series X, PC, Playstation 5, Google Stadia
Sprache: deutsche Sprachausgabe, deutsche Untertitel
Kosten: ab 42,99 Euro
Fazit
Mit Watch Dogs: Legion wagen Publisher Ubisoft und die hauseigenen Entwicklerstudios ein mehr oder minder innovatives Experiment: Statt Spieler in die Fußstapfen eines Charakters schlüpfen zu lassen, greift man auf eine ganze Horde an Figuren zu, die man sich erst mühsam zusammensuchen muss. Das gefällt nicht jedem, sorgt jedoch für Spaß, wenn man sich auf das System einlassen kann. Viel interessanter als der Ist-Status in diesem Spiel ist vermutlich sogar der Ausblick in die Zukunft: Die Entwickler lernen aus ihrer Kreation und dem Feedback von Spielern, arbeiten an Verbesserungen und können so im Idealfall einige Ableger später eine deutlich innovativere Spielerfahrung bieten als mit dem Status quo. Watch Dogs: Legion scheint für Ubisoft eine Investition in die Zukunft zu sein.
Ansonsten setzen die Macher natürlich auf die bekannte Open-World-Formel, die auch bei Watch Dogs: Legion am Ende nur mehr vom Gleichen bietet. Das kann an kritisieren oder man nimmt es hin, weil man sich mit den aktuellen Standards des Genres arrangieren kann. Optisch sieht der aktuelle Ableger der Reihe jedenfalls hervorragend aus – und genau an dieser Stelle spielt Ubisoft seine Open-World-Erfahrungen aus. Die futuristische Metropole wird auf dem Bildschirm förmlich zum Leben erweckt, an vielen Ecken ist etwas los, auch wenn man das Gefühl nicht los wird, es könnte noch mehr Trubel herrschen in der Megastadt. Untermalt wird all das durch teils coole Musik, etwa von Muse, die aus dem Radio tönt. Die Leucht- und Lichteffekte sind übrigens atmosphärisch, auf der Xbox Series X (unserem Testsystem für das Spiel) erst recht.
Nicht ganz mithalten mit dem Legion-System und der grandiosen Optik kann das Gameplay. Missionen spielen sich oft nach Schema F ab, zwischendurch halten immer wieder gute Momente das Spiel am Laufen, sodass es letztendlich niemals wirklich langweilig wird, die Haupt- und Nebenquests abzuarbeiten. Es gibt viel Standardkost in Ubisoft Open-World, die zwar – wie so oft – wunderbar präsentiert wird und grundsätzlich gut funktioniert, allerdings selten mit echten Highlights glänzen kann. Mitunter liegt das auch am Legion-System selbst und der ewige präsentierten Illusion von der grenzenlosen Freiheit: Ja, man kann fast alle Londoner für seine Sache gewinnen, am Ende werden die Grenzen allerdings durch simple Klasseneinteilungen gesetzt – bei Watch Dogs: Legion allerdings mit der Besonderheit, dass man verschiedene Klischee-Typen darüber legt.
Dennoch ist Watch Dogs: Legion ein spaßiger Titel, wenn man die Unterhaltung aus dem Sandbox-Gedanken zieht. Ist das der große Wurf? Mitnichten. Ist das Spiel aber motivierend genug, um darin für Stunden zu versinken? Auf jeden Fall! Herum zu probieren, was möglich ist in der Welt, Schabernack treiben, Unfälle verursachen, wilde Verfolgungsjagden auf sich nehmen und hier und da auch mal einer stumpfen Ballerei nicht aus dem Weg gehen – das alles und noch mehr lässt sich im futurischen Großstadtdschungel anstellen. Watch Dogs: Legion ist eine leichte Weiterentwicklung des Open-World-Gedankens anzumerken, am Ende ist man aber doch den eher sicheren Weg gegangen und hat das Bewährtes gesetzt. Und das Thema des Spiels? Das trägt sich heutzutage von allein: Big Brother is watching you.
Vorschau | Produkt | Bewertung | Preis | |
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Watch Dogs Legion Ultimate Edition | Uncut - [PlayStation 4] * | 19,95 EUR |
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