Das Brettspiel zu Anno 1800 war für den Kosmos Verlag einer jener Titel, mit dem man ein gutes Händchen bewiesen hat. Erfahrungen mit der Marke waren bereits vorhanden, immerhin hatte der Stuttgarter Verlag bereits die Ableger 1701 und 1503 aus Ubisofts Videospielreihe als analoge Spiele adaptiert. Etwas hat sich allerdings verändert: Nicht mehr Klaus Teuber hat die Umsetzung verantwortet, sondern Martin Wallace. Ebenfalls Autorenlegende und Experte für Handels- und Wirtschafts-Brettspiele. Gute Voraussetzungen also für eine gelungene, unterhaltsame Brettspiel-Adaption – und tatsächlich: Anno 1800 überzeugt.
Die „Anno“-Reihe, deren Jahreszahlen stets die Quersumme Neun bilden, hat sich bereits in den Neunzigerjahren etablieren können, damals mit Anno 1602, das noch von Max Design und damit aus Österreich kam. Später übernahmen die beiden deutschen Entwicklerstudios Related Design und Blue Byte – auch der Publisher ist heute ein anderer als damals: Ubisoft hatte im Jahr 2007 Sunflowers abgelöst. Derartige Wechsel gab es bei analogen Äquivalent nicht: Seit jeher zeichnet sich der Verlag Kosmos für die Umsetzungen als Brettspiele und Kartenspiele verantwortlich. Neu ist lediglich der Autor, der für die Ausgestaltung von Anno 1800 zuständig war. Martin Wallace hat man sich dafür ins Boot geholt: Erfahren als Spieleautor, erfahren als Designer von Handels- und Wirtschaftsspielen und darüber hinaus werbewirksame Branchenlegende. Konnte das dennoch schiefgehen? Ja. Ist es das? Nein.
Anno 1800 im Test: Wie das Videospiel
Die Verwandtschaft zu der Videospiel-Vorlage ist bereits optisch offensichtlich: Ähnliche Packung, Grafiken aus dem digitalen Original, gleiches Setting. Passgenauer kann man eine Brettspiel-Adaption kaum aufziehen. Martin Wallace und Kosmos haben nicht experimentiert, sondern konsequent ein bereits bestehendes Konzept als funktionierendes Tischspiel umgearbeitet. Freuen wird das vor allem jene Fans, die schon mit der PC-Spielreihe Freude hatten. Allen anderen ist die optische Ähnlichkeit vermutlich egal, sie erwarten spielerisch Qualität. Und auch die überzeugt.
Spieler starten – wie in der Vorlage – mit nicht viel mehr als einige grundlegenden Elementen, um ihren Wirtschaftskreislauf in Gang bringen zu können. Vier Bauern, drei Arbeiter und zwei Handwerker – mehr gibt es nicht für die zwei bis vier Spieler, die sich damit aufmachen, um im Zeitalter der Industrialisierung zur Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Die Idee ist bekannt: Man produziert Güter, unter anderem in Abhängigkeit der verschiedenen Bevölkerungskategorien.
Der Erfolg ist bei der Brettspielvariante zu Anno 1800 natürlich ungleich mechanischer: Für Erfolge gibt es Boni und Siegpunkte. Insgesamt orientiert sich das Brettspiel sehr eng an der Vorlage. Im Verlauf der Partie kommen immer wieder neue Elemente ins Spiel – neue Einheitentypen etwa, oder Waren. Statt selbst zu produzieren, kann man auch mit anderen Spielern handeln oder man tut das, was Pioniere so tun: die Welt entdecken zum Beispiel, denn auch das ist lohnenswert. Immer wieder drängt das Spielprinzip auf Zwischenentscheidungen: Tokens und Einheiten kann man zurückholen, dafür setzt man aus oder man bezahlt dafür. Und zwar mit Währung, die man durch den Handel mit seinen Gegenspielern generiert. Das Brettspiel zu Anno 1800 setzt auf verschiedene Synergien, die thematisch stimmig und auch spielerisch sinnvoll verwoben sind.
Auch auf jeweiligen Spieltafeln – quasi dem Bauland – dürfen Spieler sich, analog zum Videospiel, austoben. Mehr Platz schafft man mithilfe von Schiffen, um so neue Inseln er entdecken. Das alles klingt verdächtig nach Anno 1800 auf dem PC und es fühlt sich auch als Brettspiel weitestgehend so an. Martin Wallace ist es gelungen, ein Spielprinzip zu erschaffen, bei dem nicht wahllos gehortet werden, sondern sinnvoll gemanagt werden muss. Man produziert bedarfsgerecht, setzt die Kraft seiner Arbeiter dabei also so effizient wie möglich ein – und erweitert auch seine Belegschaft entlang seiner Produktivität.
Statt mit der KI handelt man beim Brettspiel zu Anno 1800 mit den anderen Spielern, und auch das ist hervorragend, weil ohne Barrieren zu schaffen, umgesetzt. Anno 1800 ist grundsätzlich interaktiv, erzwingt das zum Teil auch, nötigt den Spielern dabei allerdings keine großen Vorbereitungen ab: Sofern Handelsmarker vorhanden sind, kann man Waren auch verschieben. Gleichzeitig merkt man aber auch: Man kann sich in diesen sich stets wiederholenden Handlungen verlieren – das geht zulasten der Spielzeit. Die ist mit rund zwei Stunden ohnehin nicht besonders kurz, zieht sich jedoch in die Länge, je weniger Spieler es darauf anlegen, die Partie zu einem Ende zu bringen.
Bloß kein Stadtfest…
Andererseits macht es Spaß, seine Supply-Chain zu optimieren, die Produktionslandschaft möglichst effizient zu gestalten und das Stadtfest hinauszuzögern. Gold und Boni sammeln, die Währungen für Arbeiter nutzen – in diesem Fall ohne das eigene Spiel ins Stocken geraten lassen zu müssen – und immer wieder zwischen mehreren Optionen abwägen: So lässt sich grob die Kernaufgabe der Spieler beschreiben. Das Brettspiel zu Anno 1800 umfasst keine gigantische Maschinerie, sondern nutzt vergleichsweise wenige, dafür aber die für ein Brettspiel besonders passende Elemente der digitalen Vorlage.
Irgendwann hat dann auch eine Partie Anno 1800 ein Ende: Wenn alle Handkarten ausgespielt wurden nämlich. Ärgerlicherweise liegt genau das wortwörtlich in der Hand der Spieler selbst. Wer viel grübelt und zögert, stellt die anderen Spieler auf eine harte Geduldsprobe, denn viel zu tun gibt es nicht, wenn man nicht gerade selbst an der Reihe ist. Also wartet man meistens, im „Worst case“ viele Minuten pro Zug, was sich letztendlich zu einer Spielzeit weit über den angesetzten zwei Stunden aufsummieren kann. Der umgekehrte Fall ist besser: Spieler haben Erfahrungen, spielen Folgepartien und wissen, worauf es ankommt. Dann ist Anno 1800 knackig, aber fordernd – und dann besonders unterhaltsam.
Daraus folgt: Auch mit zwei Spielern funktioniert das Brettspiel hervorragend und das Risiko einer zeitlichen Verschleppung ist gering. Eine Formel geht also nicht auf: Das Brettspiel zu Anno 1800 macht mit mehr Spielern nicht auch automatisch mehr Spaß. Das liegt nicht allein an der Spielzeit, sondern an der Mechanik. Die ist, abgesehen vom Handel, auf Selbstoptimierung ausgelegt. Man greift dem gegenüber zwar ins Kontor, das war es dann allerdings auch wieder. Anno 1800 überzeugt zu zweit, ist zu dritt überragend, empfiehlt sich allerdings nicht in Vollbesetzung mit vier Spielern.
Eine echte Motivationsbremse ist allerdings fehlendes Glück beim Kartenziehen. Das kann sich schnell als fatal für die eigene Strategie herausstellen, was mitunter auch Balancing-Gründe hat. Die Kompensationsmöglichkeiten sind auf aufgrund des linearen Spielprinzips gering. Bemerkbar macht sich das mit steigender Erfahrung. Spielzüge fühlen sich dann gleichförmig an, man arbeitet eher eine Strategie ab als sich eine neue auszudenken. Verzichten sollte man deshalb auf eine Partie Anno 1800 nicht, denn die eher solitären Aktionen durchzuziehen, macht auf eine merkwürdige Weise viel Spaß. Genau das liegt letztendlich wieder an besagtem linearen Spielprinzip: Der Ablauf bei Anno 1800 plätschert flüssig und unaufdringlich dahin, nachdenken muss man dennoch, allerdings selten in einem ermüdenden Maße. Weitaus mehr Konzentration verlangt hingegen ab, die Übersicht über den Materialwust auf dem Tisch zu behalten. Daran gewöhnt man sich, aber es ist eine Hemmschwelle.
Infobox
Spielerzahl: 2 bis 4 Spieler
Alter: ab 12 Jahren
Spieldauer: 90 bis 180 Minuten
Schwierigkeit: mittel
Langzeitmotivation: mittel
Verlag: Kosmos
Webseite: Link
Erscheinungsjahr: 2020
Autor: Martin Wallace
Sprache: deutsch
Kosten: rund 50 Euro
Fazit
Offensichtlich ist eines: Das Brettspiel zu Anno 1800 ist keine „Lizenzgurke“. Im Gegenteil: Das Handelsspiel von Martin Wallace ist eines der bislang besten Werke im Portfolio des Kosmos Verlags. Das liegt vor allem an der originalgetreuen Umsetzung, und dem daraus resultierenden Anno-Flair, darüber hinaus funktioniert das eingängige, aber dennoch motivierende Spielprinzip schlicht hervorragend. Auch wenn es am Ende „nur“ Plättchen-Schieberei ist, ist genau das der spaßbringende Faktor. Man agiert viel, auch mit den Mitspielern, allerdings auf einer Ebene, auf der man sich selten in die Quere kommt.
Es gibt viel mehr darum, seine Inseln möglichst effizient auszubauen, seine Produktionsketten zu überdenken und seine Arbeiter zu dirigieren. Dass sich Anno 1800 deshalb mitunter mechanisch anfühlt, muss man hinnehmen. Dafür bietet das Brettspiel – bei meist durchaus überschaubarem Zeiteinsatz – schnörkellose Partien rund um Ressourcenmanagement. Je nach Spielerzahl muss man umdenken und seine Taktiken anpassen, das ist gut so. Letztendlich will dieses Brettspiel keine epische Handelssimulation sein, sondern ein Optimierungsspiel, bei dem Spieler bestenfalls auf ein Ziel hinarbeiten und sich nicht treiben lassen. Man spielt zwar mit- bzw. gegeneinander, die wahren Stärken liegen jedoch im Solitär-Spiel – dass sich also ein Solo-Regelwerk in Entwicklung befindet, ist daher nicht überraschend, sondern angesichts des Spielprinzips konsequent.
Mit steigender Spielerfahrung kristallisieren sich stärkere Spielelemente heraus, die einem Vorteil verschaffen. Auch beim Warenhandel gibt es einige Ungenauigkeiten, die sich ungünstig auf den Spielverlauf auswirken können. Dennoch, insgesamt funktioniert das erdachte Spielprinzip und Wallace‘ Konzept, die Kernhandlungen aus Anno in ein Brettspiel zu überführen, geht auf.
Auf die Optik trifft das nicht unbedingt zu. Zweckmäßig und nüchtern, so präsentiert sich das Brettspiel zu Anno 1800 und damit genau gegenteilig zu dem wunderschönen Videospiel. Ja, Grafiken aus dem Spiel wurden übernommen – und das ist auch gut so -, dennoch liegt Anno eher bieder auf dem Tisch. Eine echte Augenweide sieht jedenfalls anders aus. Andererseits sorgt die Nüchternheit für Übersicht – und die ist notwendig, sogar in den passiven Zügen. Stets verfolgt man, was der Gegner tut. Das ist essentiell, aber auch Fluch und Segen.
Insgesamt ist das Brettspiel zu Anno 1800 nicht nur ein überraschend guter, sondern ein rundum gelungener Titel. Das Brettspiel punktet nicht unbedingt durch Komplexität, sondern einen klugen Einsatz von Synergien. Man entscheidet sich stets zwischen mehreren Handlungsalternativen, wird besser, je öfter man spielt. Anno 1800 hat eine spürbare Lernkurve, die allerdings irgendwann abrupt endet: dann fühlen sich Folgepartien eher gleichförmig an. Bis es soweit ist, dauert es allerdings viele Runden.
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