Es gibt eine Reihe von Entwicklern, bei denen nicht von Beginn an klar ist, was sie mit einem Projekt eigentlich bezwecken wollen. Das Duo Romero/Carmack gehörte einst dazu, Peter Molyneux ebenso, bei Chris Robert stellt man sich die Sinn-Frage seit Jahren fast täglich. Auch Hideo Kojima bewegt sich mit seinen Ideen nicht immer innerhalb der Grenzen des Nachvollziehbaren. Mit Death Stranding, das nun auch für PC erschienen ist, scheint der Spieleentwickler vorerst die Spitze des Eisbergs erreicht zu haben. Die virtuelle Paketboten-Simulation in einem post-apokalyptischen Setting ist zunächst kaum greifbar – und das bleibt über viele Stunden so. Warum man sich dennoch darauf einlassen sollte? Lest unser Review zu Death Stranding?
Als Spieler verkörpert man Sam Porter Bridges und damit nicht etwa einen strahlenden Helden mit futuristischer Bewaffnung, sondern einen Paketboten. Und über lange Strecken tut man das, was Paketboten eben am besten können: Pakete ausliefern. Die abgedrehte Grundprämisse verspricht weder besonders viel Innovation, noch Spannung. Unterhaltung schon gar nicht. Und dennoch gelingt es Hideo Kojima aus diesem „So gut wie nichts“ ein Videospiel zu machen, das nicht immer, aber oft zu fesseln weiß. Das liegt allerdings nicht an der Hintergrundgeschichte des Spiels, die ist nämlich eher solide als herausragend. Dafür bekommen Spieler alles, was sie von Kojima erwarten dürfen: jede Menge bizarre Figuren, ausufernde Zwischensequenzen, einen fantastischen Soundtrack und eine Spielwelt, die einen förmlich einsaugt.
Achtung, Bridge-Baby an Bord!
Schnell wird deutlich: Es sind die ruhigen Passagen, die Death Stranding zu einem herausragenden Spiel, in gewisser Hinsicht zu einem Meisterwerk machen. Allein durch die post-apokalyptische Einöde zu wandern hat fast etwas Meditatives. Was spielerisch seicht klingt, entpuppt sich als völlig neuartige Erfahrung, die man erlebt haben muss, wenn man sich passionierter Gamer nennt. Die Story entspinnt sich dabei schrittweise, präsentiert in minutenlangen – und ziemlich ansehnlichen – Cutscenes. Manchmal in gewaltigen Momenten, manchmal unverständlich, mal verrückt und abgedreht.
Dass Kojima für die Rollen nicht nur Schauspieler rekrutiert hat, sondern Filmstars, ist der Atmosphäre zuträglich. Norman Reedus aus The Walking Dead verkörpert die Hauptfigur Sam Porter Bridges, die sich mit der übernatürlichen Katastrophe „Death Stranding“ konfrontiert sieht. Weitere Auftritte haben unter anderem Mads Mikkelsen oder Léa Sydoux, hinzu kommen einige Cameos. Auch die Synchro überzeugt: Allen voran Marios Gavrilis macht seine Sache gut. Das ist nicht ganz überraschend, der Schauspieler und Hörspielsprecher lieh in Assassin’s Creed Odyssey der Hauptfigur Alexios seine Stimme.
Auf besonders viele menschliche Lesewesen trifft man nicht in der kargen Welt. Die Apokalypse zwingt die letzten Überlebenden der Menschheit dazu, in unterirdischen Städte zu leben. In der Oberwelt lauern Gefahren, darunter vor allem Seelen aussaugende Geister, die ebenso mysteriös wie gefährlich in Szene gesetzt werden. Hinzu kommt der Regen, der alles und jeden altern lässt. Die Aufgabe des Spielers besteht nun darin, sich den Gefahren der Ödnis zu stellen, um überall in Nordamerika verstreute Siedlung an das Chirale Netzwerk – eine Art Internet, nur auf eher spiritueller Ebene – anzuknüpfen. Sam Porter Bridges scheint dafür wie gemacht: Als Bote kennt er sich aus mit Wanderungen, mit begrenzten zeitlichen Ressourcen, mit der Einsamkeit. Warum man all die Strapazen auf sich nehmen sollte, nein muss, wird einem schnell vermittelt: Es geht um Amerika und das sollte Motivation genug sein. Wer sich sich bereit fühlt für die große Mission, sollte einmal zählen, wie häufig das Wort „Amerika“ in jener Zwischensequenz genannt wird, die Sams erster wirklich wichtigen Aufgabe – nämlich einen rund 56 Kilogramm schweren Leichensack einen Berg hinaufschleppen – genannt wird.
Zur Story wollen wir an dieser Stelle nichts verraten und auch sonst nicht in diesem Review zu Death Stranding. Wer ohne Vorkenntnisse an das Spiel herangeht, hat definitiv viel mehr Spaß.
Egal, um welche Mission es geht: Sam Porter Bridges Fähigkeit, die unsichtbaren GDs – die Seelensauger – sehen zu können, ist dabei äußerst hilfreich. Diesbezüglich erhält der Protagonist Unterstützung durch ein sogenanntes Bridge-Baby, ein Neugeborenes, das Sam Porter mit sich schleppt. Ach ja, der Held, der eigentlich keiner ist, hat so ein weiteres nützliches Talent – er ist unsterblich. Er ist ein Wiedergänger. Segnet ihn das Zeitliche, durchwandert er eine Seelenwelt, aus der es einen Ausgang gibt.
Das alles überhaupt erst zu erfahren, ist die erstem vergleichsweise einfache Aufgabe. Durch ausgedehnte Zwischensequenzen werden die wichtigen Eckpunkte vermittelt, man versteht davon zunächst nicht viel. Kopfschütteln, Überraschung, Staunen – man kann Hideo Kojima vieles vorwerfen, nicht aber, dass er nicht schaffen würde, den Spieler neugierig zu machen auf all die bizarren Momente in Death Stranding, von denen man zu Beginn gar nicht weiß, dass sie einen erwarten und manchmal mit der Wucht der Verwunderung treffen.
Und so macht man sich auf die Reise durch die Einöde. Den allergrößten Teil des Spiels verbringt man im Freien – mit all den Vorteilen und Nachteilen, die das mit sich bringt. So der spannungsgeladene Unterton stets spürbar, auf besonders viele soziale Kontakte trifft Sam Porter Bridges aber nicht. Und genau das fühlt sich so wunderbar richtig an bei Death Stranding.
Das Spiel weicht damit ab von dem Gehüpfe zwischen sozialen Hotspots. Man ist die meiste Zeit allein, in einer einsamen Welt, die kaum etwas zu bieten hat – außer einigen tödlichen Gefahren. Die Spielwelt ist der eigentliche Star, das liest man oft. Bei Death Stranding passt die Aussage allerdings so gut, wie bei kaum einem anderen Videospiel. Schneebedeckte Berglandschaften, atemberaubende Wasserfälle, moosbedeckte Felsen, Vulkanareale – Sam Porter Bridges führen Spieler durch viele völlig unterschiedliche Umgebungen. Und man sollte die Zeit nutzen, alles zu erkunden und die Eindrücke wirken zu lassen.
Wirklich langweilig wird der Erkundungstrip nicht, was nicht zuletzt daran liegt, dass man Bridges aktiv „mikromanagen“ muss. Trägt er zu viel, muss man ihn im Gleichgewicht halten, rutscht er auf nassem Untergrund einen Hang herunter, muss man Bridges bremsen, watet er durch einen reißenden Fluss, kommt er nur mühsam voran und verliert Ausdauer. Und so trampelt, torkelt und stürzt man von der Ostküste zur Westküste – immer mit schweren Paketen auf dem Rücken, die es abzuliefern gilt. Das nervt mitunter ungemein, erweist sich dann allerdings als enorm lohnenswert. Natürlich fährt man auch herum.
Amerika steht vor dem Untergang: Nur keine Eile…
Eile ist der Kontrast zu Death Stranding. Hideo Kojimo hat sich Zeit gelassen, um die Welt auszugestalten. Als Spieler benötigt man Zeit ebenfalls. Mit kleinen Schritten schleppt Sam Porter Bridges seine Pakete umher, als Spieler nimmt man ihm durchaus ab, dass seine zerbrechliche Last schwer wiegt. Seinen Weg muss man planen, die Landschaft scheint mitunter unüberwindbar zu sein – etwa, wenn man vollbepackt über einen Gebirgskamm sprintet, an dessen Rändern man jederzeit den Abhang hinunter rutschen könnte.
Auch Schleichpassagen gibt es, meistens wenn es darum geht, an den GDs vorbeizuhuschen – unbemerkt, beladen, eigentlich tölpelhaft, dennoch erfolgreich und daher zufrieden. Dass man auch mit Wind und Wetter konfrontiert wird bei Death Stranding? Fast schon selbstverständlich. Und dann sind da auch noch Fieslinge, die einem die Fracht nur allzu gerne abnehmen würden: gelingt dann, schleicht der Protagonist sich in ihr Lager und holt sich zurück, was nicht weder ihnen noch ihm selbst gehört.
Bei Death Stranding ist es viel eher das Gefühl, dass einem Spaß bereitet und wenige die Spielhandlungen an sich. Auch wenn letztere schrittweise vielfältiger werden, weil der Progress dem Spieler immer wieder nützliche Werkzeuge zufüttert: Kletterseile, verschiedene Kits, Handschuhe, mit denen sich schneller klettern lässt, aber auch Exo-Skelett-Verbesserungen, mit denen man noch mehr Lasten tragen kann – und dann sind da noch diese „Blutgranaten“, mit denen man GDs ausschalten kann. Weil man natürlich nicht alles an Zusatzausrüstung mitschleppen kann, kommt ein kleines taktisches Element ins Spiel, weil man vor dem Antritt einer langen Reise entscheiden muss, welches Equipment man voraussichtlich am besten gebrauchen kann.
Waffen gibt es auch in Death Stranding, gebrauchen muss man sie aber nicht – zumindest über weite Strecken des Spiels. Gewaltfrei ist auch das neue Werk von Hideo Kojima nicht, sowohl was die Rahmeninhalte als auch die Spielhandlungen insgesamt betrifft. Dennoch: Vieles lässt sich auch ohne den Einsatz von Waffengewalt hervorragend lösen, meistens sogar auf eine deutlich spannendere Weise.
Vieles in Death Stranding erscheint wirr, einiges verrückt. Irgendwie ist am Ende aber alles miteinander verbunden und auf eine seltsame Weise nachvollziehbar und genau so richtig, wie Kojima es auf den Bildschirm bringt.
Neben den vielen kleinen Momenten, die überzeugen, gibt es auch die großen Design-Entscheidungen, bei denen einem klar wird, weshalb Hideo Kojima mehr kann als nur „Metal Gear“. Der Mehrspielmodus ist so ein herausragendes Beispiel: Das Konzept ist asynchron, Mitspieler sind da ohne dass man sie jemals auch nur zu Gesicht bekommen müsste. Überall verstreut in der Spielwelt findet man die Überbleibsel anderer Spieler: Seilrutschen, Brücken, Generatoren. Es sind Spuren jener, die man niemals zuvor gesehen hat, von denen man aber weiß, dass sie da sind, da waren. Für die „coolen Moves“ anderer Spielen kann man Likes verteilen, als eine Art Wertschätzung für ihre Arbeit. Der Mehrspielermodus ist optional, nutzen muss man ihn nicht – aber man sollte eigentlich nicht auf diese Erfahrung verzichten, die Death Stranding in gewisser Hinsicht erst komplett macht.
Infobox
Spielerzahl: Solo und asynchroner Multiplayer
Alter: ab 16 Jahren
Schwierigkeit: mittel
Langzeitmotivation: mittel
Publisher: Sony Interactive Entertainment / 505 Games
Entwickler: Kojima Productions
Erscheinungsjahr: 2019 (PS4) / 2020 (PC)
Plattformen: PC, Playstation 4
Sprache: Deutsch
Kosten: 29,99 Euro / 64,99 Euro
Fazit zu Death Stranding
Zugegeben, der Einstieg in Death Stranding ist haarsträubend. Es prasselt ein nicht enden wollender Wust von irrwitzigen Begrifflichkeiten auf den Spieler ein, viele davon bleiben zunächst unverständlich. Es scheint, als müsste man die Rahmengegebenheiten der Spielwelt von Death Stranding kennen ohne Death Stranding zu kennen, um das Spiel von Beginn an nachvollziehen zu können. Es gibt so unglaublich viel wirres, manchmal überladen wirkendes Beiwerk, das die Story schier in den Hintergrund treibt.
Dabei hat man es als Spieler schon schwer genug, sich mit den Grundzügen der Geschichte zu beschäftigen. Mitreißend ist das Präsentierte nämlich, trotz der großartigen Besetzung, nicht immer – Mads Mikkelsen ausgenommen, er beweist man wieder, wie punktgenau sein Können sein kann, wenn es um die Darstellung von charismatischen Fieslingen geht. Dennoch: Wenn virtuelle Tränen geweint werden, dann wirkt der Moment längst nicht immer ergreifend. Hinzu kommt, dass die große Rahmenhandlung – Sams Porter Bridges rettet Amerika – ein toller Aufhänger ist, die Details aber mitunter eher abgearbeitet, als ansprechend ausgearbeitet werden.
Mit dieser Grundstimmung legt man los und begibt sich auf die ersten Missionen – und von da an, entfaltet Death Stranding sein wahres Potenzial. Raue Landschaften, viel Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen – erst, weil man muss- Später, weil man es will. Der Kampf gegen Wind, Wetter und Landschaft ist das herausregende Element in Death Stranding. Dann entfaltet das Spiel den Reiz einer Naturdokumentation, bei der filmisch wenig passiert, die man aber trotzdem fasziniert gucken muss. Die post-apokalyptische Ausarbeitung ist ebenso grandios: Geräte, Fahrzeuge, Items – all das technologische Kleinod, mit dem Sam Porter Bridges in Berührung kommt, wirkt wie aus einem Guss. Die Hightech-Kunst von Yoji Shinkawa unterstreicht die besondere Atmosphäre des Spiels. Grafisch hämmert einen Death Stranding auf dem PC ohnehin in den Gaming-Sessel. Die Optik ist atemberaubend, zudem der Sound, ebenso die Musik.
Am Ende ist Death Stranding nicht einfach nur ein gutes oder ein schlechtes Spiel, sondern eine Erfahrung, auf die man sich einlassen muss, damit man die Qualitäten des Titels überhaupt erfahren kann. Man kann gut nachvollziehen, weshalb Hideos Kojimas neues Werk streitbar ist. Nicht alles folgt einem roten Faden, manches erscheint wirr und aufgesetzt, fast schon unpassend – anderes fügt sich so nahtlos in die Spielwelt ein, dass es beeindruckt. Death Stranding ist eine Art virtueller Blick über den Tellerrand. Genre-Grenzen reißt das Spiel ein, es lässt sich kaum zuordnen mit seinem wilden Mix aus postapokalyptischem Abenteuer, Mystery-Horror, Action, Lebenssimulation, Rollenspiel, und Sci-Fi-Film.
Ob Death Stranding ein gutes Spiel ist? Die Antwort darauf ist eindeutig: Es kommt ganz darauf an…
[stextbox id=’autor‘ caption=’Wir suchen Verstärkung für die Redaktion‘]Wir suchen nach News-Autoren in den Bereichen Gaming, Bücher, Brettspiele sowie Filme und Serien. Du möchtest mitmachen? Dann > hier < klicken und bewerben.[/stextbox]