Manche Themen für künftige Webartikel entstehen aus dem Nichts. Sie kommen aus heiterem Himmel – ganz spontan. So auch der Aufhänger für diesen Artikel. Als ich im Internet neue Brettspieltitel recherchierte, kam mir die Frage in den Sinn, wie es wohl wäre, wenn ich aufgrund einer Sehbehinderung plötzlich an der Ausübung meines Hobbys gehindert würde, auf viele Brettspiele vielleicht sogar völlig verzichten müsste. Eine erste Recherche hat mir gezeigt, dass behindertengerechte Brett- und Kartenspiele auch für Menschen existieren, die mit einer Sehbehinderung geboren wurden oder bei denen sich das Handicap im Laufe des Lebens entwickelt hat. Schnell wurde deutlich: das Angebot an Brettspieltiteln für blinde Menschen ist überschaubar. Der nachfolgende Beitrag widmet sich dem Themenbereich der Brettspiele für blinde Menschen und soll ausdrücklich auch als Aufruf verstanden werden, Inklusion unter Brettspielern zu fordern und zu fördern.
Gesellschaftsspiele: Ein doppeldeutiger Begriff
Eine erste Recherche hat mir gezeigt, dass behindertengerechte Brett- und Kartenspiele auch für Menschen existieren, die mit einer Sehbehinderung geboren wurden oder bei denen sich das Handicap im Laufe des Lebens entwickelt hat. Schnell wurde deutlich: das Angebot an Brettspieltiteln für blinde Menschen ist überschaubar. Wir leben in einer Welt, in der das Sehen unser wichtigster Sinn ist. Dies wird umso deutlicher, wenn man alltägliche Situationen betrachtet und sich bewusst macht, welchen Einfluss die Fähigkeit zu sehen auf eben diese Situationen hat. Das bekannteste Beispiel dürften die Hilfsmittel an Verkehrsampeln sein: Als sehender Mensch hören wir gern auf das piepende „Startsignal“, das uns das Zeichen zur Überquerung der Straße gibt. Wir nutzen derartige Hilfen aus Bequemlichkeit, beispielsweise damit wir nicht vom Bildschirm des Smartphones hoch schauen müssen, während wir auf die nächste Grünphase warten.
Für Menschen mit einer Sehbehinderung sind akustische und taktile Hilfen dagegen überlebenswichtig. Vergleicht man die Relevanz dieser technischen Hilfsmittel mit der Verfügbarkeit von Spielangeboten für blinde Menschen, so wird klar, dass es Parallelen gibt, die man nicht von der Hand weisen kann. Im Grunde läuft alles auf ein zentrales Stichwort hinaus: Inklusion. Teilhabe am Leben, Teilhabe an der Gesellschaft, Teilhabe an Unterhaltung. Unterschiedliche Formen des Spielens gehören seit Anbeginn der Zeit zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Dass daran also auch Menschen mit einer Sehbehinderung teilhaben müssen, ist nicht nur konsequent, sondern selbstverständlich. Am Ende ist es wie immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Spielen jedem Menschen zu ermöglichen – egal welches Handicap besteht.
Annäherung an das Thema Brettspiele für blinde Menschen
Weil es als Sehender schwierig ist, sich in einen Menschen hineinzuversetzen, dem unser wichtigster Sinn nicht zur Verfügung steht, waren mir Eindrücke von Menschen wichtig, die sich in ihrem Alltag intensiv mit der Thematik beschäftigen. Auf der Suche nach einer Expertenmeinung wurde ich auf den BEBSK e.V. aufmerksam. Die Bundesvereinigung von Eltern blinder und sehbehinderter Kinder kümmert sich ehrenamtlich um die Belange Betroffener und bietet Unterstützung und Informationen zu alltäglichen Themen, mit denen Kinder mit einer Sehbehinderung und deren Eltern in Berührung kommen können.
Und weil Brettspielzeit eben auch Familienzeit bedeutet, halfen mir diese privaten Eindrücke sehr bei der inhaltlichen Gestaltung dieses Artikels. An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich für das Engagement von Herrn von Melle, seinen Kolleginnen und Kollegen sowie den Vereinsmitgliedern des BEBSK e.V. bedanken, deren Informationen diesen Beitrag erst möglich machten.
Ausbaufähige Spieleangebote
Eine der ersten Möglichkeiten für Gesellschaftsspiele, die ich bei der Recherche fand, waren Kartenspiele – natürlich in Braille-Schrift, der offiziellen und weltweit gültigen Tastschrift für Menschen mit einer Sehbehinderung. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Braille-Spielkarten nicht von einem handelsüblichen Kartenset. Die Unterschiede werden erst beim Betasten der einzelnen Blätter deutlich; dann nämlich spürt man die feinen Erhebungen, die die Kartenwerte für Nichtsehende fühlbar machen wodurch sich der gesamte Ablauf des Kartenspiels mental repräsentieren lässt. Das Erlernen der Braille-Schrift ist für Menschen mit einer Sehbehinderung ein wichtiger Schritt hin zu einem selbst bestimmten Leben. Dass sich hinter dem „Sprachlernprozess“ eine enorme Leistung verbirgt, muss an dieser Stelle eigentlich nicht erwähnt werden. Insbesondere Kinder profitieren also von spielerischen Lernepisoden, wie etwa der unterhaltsamen Kartenspielrunde, die einige der Braille-Elemente zwar nicht auf audio-visuelle, aber auf eine taktil-pragmatische Art vermittelt. Wenn also nicht-sehende Menschen gleichsam Vorteile aus Spiellernen ziehen, bleibt die Frage weshalb das Spieleangebot so überschaubar ist.
Worauf kommt es also an bei der Entwicklung von Brettspielen für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung?
Selbstbestimmtes Spielen ist elementar
Worin im Einzelnen die Problematiken für Mensch mit einer Sehbehinderung in der Durchführung einer Brettspielpartie bestehen, lässt sich anschaulich darstellen, wenn man die besonderen Hilfsmechanismen beschreibt, die notwendig sind, um ein Gesellschaftsspiel für blinde Menschen nachvollziehbar und erlebbar zu machen.
Ich nahm ursprünglich an, dass die Zuhilfenahme eines „Buddies“ wohl eine sinnvolle Maßnahme sei, um blinden Menschen das Brettspielen zu ermöglichen. Bei genauerer Betrachtung scheint dies aber kein zufriedenstellender Lösungsansatz zu sein, denn es nimmt den Menschen mit einer Sehbehinderung einen Teil ihrer Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, wenn sie auf den genannten Buddy angewiesen sind. Das bestätigt auch Jörg van Melle, der 1. Vorsitzende des BEBSK e.V., mit seiner Aussage, dass „ein Spiel komplett ALLEINE von einem blinden Kind/Mitspieler gespielt werden kann – ohne Hilfe von Sehenden“. Folgerichtig gehört mehr zu einem gut gemachten Brettspiel für Blinde als bloß tastbare Figuren.
Bereits das Regelwerk müsse daher „schon mal in Brailleschrift vorliegen“, so van Melle weiter. Der 1. Vorsitzende machte mich dann auf einen Aspekt aufmerksam, der auch für blinde Menschen einen hohen Stellenwert genießt: die Anschaffungskosten. Es nützt wenig, wenn spezielle Brettspiele zwar erhältlich sind, die Kosten dann aber den finanziellen Rahmen sprengen, zumal Menschen mit einer Behinderung meist ohnehin schon finanziell besonders belastet sind. Aufgrund teilweise hoher Hürden seien nicht alle Spiele anpassbar. Jörg van Melle führte beispielhaft einen „Blinden-Backgammon-Koffer“ sowie eine angepasste Version des Brettspielklassikers Scrabble an, die er selbst besitzt. Die Spiele hat er in den USA gekauft – hierzulande seien Spiele in einer derartigen Verarbeitungsqualität fast nicht zu bekommen und sehr teuer. Ohnehin seien Erweiterungen des Sortiments kaum spürbar, teilweise sogar rückschrittlich. So gab es nach den Ausführungen van Melles ein Monopoly für blinde Menschen, das mittlerweile nicht mehr erhältlich ist.
Wesentliche Elemente von Brettspielen für blinde Menschen
Schaut man sich das Angebot von speziellen Brettspielen für blinde Menschen an, so fällt auf, dass vor allem die Klassiker zu den häufig vertretenen Titeln zählen. Egal ob Schach, Backgammon oder Kniffel: Brettspieleklassiker kommen nicht nur gut an, sondern lassen sich aufgrund ihrer vergleichsweise simplen Spielmechanismen gut adaptieren. Beim Blindenschach sind die schwarzen Felder leicht erhöht, die schwarzen Figuren verfügen über einen leicht tastbaren Knopf – mehr braucht es nicht, um eines der ältesten Brettspiele auch für blinde Menschen zugänglich zu machen.
Schwieriger wird es dagegen bei Brettspielen mit komplexeren Spielbrettern, zahlreichen unterschiedlich designten Figuren oder Spieltokens. Auch die Komplexität des Regelwerks und des sich ständig verändernden Spielaufbaus sind Erschwernisse, die es zu analysieren gilt. Macht man sich bewusst, dass das Spielbrett mitsamt aller Materialien nur als mentale Repräsentation für einen Menschen mit einer Sehbehinderung verfügbar ist, so wird schnell deutlich, dass man nicht ohne Weiteres Brettspiele für Nichtsehende adaptieren kann.
Dass die Anpassung von Brettspielkonzepten an die Bedürfnisse von Menschen mit Sehbehinderung oder blinden Spielern möglich ist, zeigt der Hersteller Velen Spiele aus Neuwied. Seit rund 20 Jahren arbeitet der Hersteller von Integrationsspielen mit dem renommierten Verlag Ravensburger zusammen und erzielt tolle Ergebnisse bei der Adaption von bekannten Brettspiel-Titeln für Erwachsene und Kinder. Es muss also nicht immer Schach oder Mensch ärgere Dich nicht sein, wenn blinde Menschen gemeinsame Zeit mit Brettspielen verbringen möchten. Velen führt in seinem Herstellerkatalog Brettspiele wie Hexentanz, Sagaland, Phase 10 – Das Brettspiel oder Der zerstreute Pharao. Alles zwar keine brandaktuellen Titel, aber immerhin eine gute Auswahl in der ansonsten eher konservativen Brettspielwelt für Mitspieler mit einer Sehbehinderung. Vor allem Kinder freuen sich über angepasste Spieltitel wie Schnappt Hubi, Hase und Igel oder die Maulwurf Company. Schnappt Hubi ist einer der beiden Titel, mit dem auch die Kinder von Jörg van Melle gern ihre Zeit verbringen – die unterhaltsame Alternative ist das Brettspiel Wer war’s?, prämiertes Kinderspiel des Jahres 2008 und damit ein echter Hochkaräter unter den Brettspielen für blinde Menschen. Insbesondere für Eltern dürfte das Gefühl beruhigend sein, die Möglichkeit zu haben, Brettspiele gemeinsam mit ihren Kindern spielen zu können – trotz des Handicaps. Und dass Eltern auch selbst kreativ werden, wenn es um die Adaption von Brettspielen geht, verrät Jörg van Melle im Interview ganz beiläufig. Für mich sind diese eigenverantwortlichen Anpassungen bemerkenswerte Zeichen, die den Bedarf professionell hergestellter Brettspiele für Menschen mit Handicap verdeutlichen.
Nicht nur Jörg van Melle sieht in der Förderung der Zusammenarbeit zwischen Spieleverlagen und Spezialherstellern eine Chance, das Kulturgut Brettspiele zu den Menschen mit Sehbehinderungen zu tragen. Am Ende braucht es einfach nur viele Vorbilder innerhalb des Verlagslandschaft, um Inklusion auch im Bereich der Brettspieler voranzutreiben.